24.2.2012 – Unter Kapitalismus versteht man eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die auf Privateigentum an den Produktionsmitteln und einer Steuerung von Produktion und Konsum durch den Markt beruht. Vor dem Hintergrund von Wirtschaftskrisen, sozialer Ungerechtigkeit, großer Einkommensunterschiede und unsicherer Arbeitsplätze zeichnet sich in den letzten Jahren eine Debatte darüber ab, ob der Kapitalismus in seiner heutigen Form noch zeitgemäß ist.
Wie denkt die Bevölkerung über Kapitalismus und Marktwirtschaft? Mit welchen Assoziationen wird unser Wirtschaftssystem verknüpft und wie ausgeprägt ist die Bereitschaft, über Alternativen nachzudenken? Auskunft hierüber gibt eine aktuelle Erhebung des Instituts für Demoskopie Allensbach (IfD).
Kapitalismus und Marktwirtschaft
Das Institut für Demoskopie Allensbach steht ganz sicher nicht im Verdacht, linke Positionen zu vertreten. Seine Gründerin, Elisabeth Noelle-Neumann (1916 – 2010), stand über Jahrzehnte aufgrund einiger antisemitischer Passagen ihrer Doktorarbeit (1940) in der Kritik und war für viele Beobachter die „Hausdemoskopin der CDU“. Seit 1988 wird das als konservativ geltende Meinungsforschungsinstitut von Renate Köcher geleitet. In der F.A.Z. veröffentlichte sie gestern eine Zusammenfassung der Ergebnisse einer Untersuchung zum Thema Kapitalismus von Ende 2011.
27 Prozent der Deutschen assoziieren den Begriff Kapitalismus mit Freiheit, 38 Prozent mit Fortschritt. Dagegen verbinden 77 Prozent den Kapitalismus mit Ausbeutung. Hier haben sich in den vergangenen 20 Jahren deutliche Veränderungen ergeben: 1992 verbanden noch 48 Prozent der Befragten den Kapitalismus mit Freiheit, 69 Prozent mit Fortschritt und nur 66 Prozent mit Ausbeutung.
Konkrete Kritik zeichnet sich dabei vor allem in Bezug auf die Einkommensverhältnisse und die Sicherheit von Arbeitsplätzen ab. So empfinden 70 Prozent der Befragten die Einkommensunterschiede als zu groß, während 62 Prozent von einer großen Unsicherheit der Arbeitsplätze ausgehen. 49 Prozent kritisieren, dass es in Deutschland, im Gegensatz zu sozialistischen Systemen, keine Arbeitsplatzgarantie gibt.
Befragt über die Auswirkungen der Marktwirtschaft sagen 58 Prozent der Deutschen, dass der Mensch hier nur als Produktionsfaktor Arbeit und nicht als Person betrachtet wird. 50 Prozent sind der Meinung, die Marktwirtschaft fördere Egoismus und Ellbogenmentalität. 48 Prozent vertreten die Auffassung, die Marktwirtschaft begünstige die Starken, während die Schwachen auf der Strecke blieben.
Ist der Kapitalismus alternativlos?
Insgesamt bewerten 48 Prozent den Kapitalismus in seiner heutigen Form als nicht mehr zeitgemäß. 24 Prozent gelangen in Bezug auf die Marktwirtschaft zu derselben Auffassung.
Trotz der deutlichen Kritik am Kapitalismus glauben allerdings nur 13 Prozent der Befragten an eine überlegene Alternative zu unserem Wirtschaftssystem. Selbst unter den Anhängern der Linkspartei sprechen sich gerade einmal 26 Prozent für eine Alternative aus.
Erklärbar wird dieser Widerspruch durch einen Blick darauf, wie die Menschen ihre eigene wirtschaftliche Lage beurteilen. Nur 11 Prozent der Befragten empfinden diese als eher schlecht oder schlecht. 25 Prozent sagen, dass es ihnen heute wirtschaftlich schlechter geht, als vor fünf Jahren und 27 Prozent zählen sich selber zu den Wohlstandsgewinnern.
Interessant in diesem Zusammenhang: Eine deutliche Mehrheit von 79 Prozent der Befragten spricht sich für eine stärkere Regulierung der Banken aus und 71 Prozent denken in Bezug auf die USA, dass die Macht der Banken und das soziale Ungleichgewicht Gegenbewegungen und Demonstrationen geradezu herausfordern.
Entsolidarisierung konserviert
Die Ergebnisse der Allensbach Untersuchung zeigen eines ganz deutlich: Obwohl der Kapitalismus von einer großen Mehrheit der Deutschen unmittelbar mit dem Begriff der Ausbeutung in Verbindung gebracht wird, zu große Einkommensunterschiede und unsichere Arbeitsverhältnisse kritisiert werden und fast die Hälfte der Befragten den Kapitalismus nicht mehr für zeitgemäß hält, ist die Bereitschaft über Alternativen nachzudenken mit nur 13 Prozent nicht sonderlich ausgeprägt.
Die geringe Neigung zu einem alternativen Wirtschaftssystem steht offenbar in einem direkten Verhältnis dazu, dass bisher nur 11 Prozent der Befragten ihre eigene wirtschaftliche Lage als schlecht beschreiben. Nimmt man die Aussage hinzu, dass 71 Prozent die US-amerikanische Protestbewegung angesichts des sozialen Ungleichgewichts für angemessen halten, dann ergibt sich das Bild, dass die Mehrheit der Bevölkerung erst dann bereit ist, über Alternativen nachzudenken, wenn es ihnen wirtschaftlich selber an den Kragen geht.
Ausbeutung, Egoismus, Lohnungerechtigkeit und unsichere Arbeitsverhältnisse werden demnach von einer breiten Mehrheit solange in Kauf genommen, wie man sich selber nicht als Verlierer der hiesigen Verhältnisse empfindet. Das Festhalten an einem System, dem man zumindest zutraut, die eigene wirtschaftliche Lage doch einmal verbessern zu können, wiegt damit in der Gesellschaft schwerer, als die Solidarität mit denjenigen, die bereits heute unter der Förderung der Starken und der Vernachlässigung der Schwachen zu leiden haben.
Die gleichzeitig hohe Zustimmung zu einer stärkeren Regulierung der Banken (79 Prozent) zeigt dabei, dass die meisten Menschen die Macht der Banken nicht als konsequente Folge des Kapitalismus in seiner heutigen Form, sondern als die eigentliche Ursache der Misere betrachten. Eine Mehrheit arbeitet ihr Unrechtsbewusstsein also an den Banken ab, statt deren Rolle und Handeln als immanenten Bestandteil unseres Gesellschafts- und Wirtschaftssystems zu begreifen.
Aus den Ergebnissen der Studie lässt sich ableiten, dass der Anteil derer, die dazu bereit sind, den Kapitalismus und die Marktwirtschaft in Frage zu stellen, mit dem Anteil derer steigt, die ihre eigene wirtschaftliche Lage als schlecht oder zumindest als gefährdet betrachten.
Dies zeichnet das Bild einer opportunistischen Gesellschaft, die den Schwachen die Solidarität verweigert und Ausbeutung, Egoismus, Ellbogenmentalität und soziale Ungerechtigkeit zustimmend in Kauf nimmt, solange nur die Aussicht besteht, man selber könne einmal zur Gruppe der Starken gehören.
Diese Entsolidarisierung ist unter anderem auf die gezielte Ausgrenzung der Schwachen in der Gesellschaft zurückzuführen. Arbeitslose, Geringverdiener, Aufstocker, prekär Beschäftigte und Hartz-IV-Empfänger werden von Politik und Medien konsequent als gesellschaftliche Randgruppe definiert und sind zusätzlich dem Vorwurf ausgesetzt, die Schuld an ihrer Situation überwiegend selber zu tragen.
Joachim Gauck als logischer Kandidat
Die Ergebnisse der Allensbach Untersuchung zeigen eines ganz deutlich: Obwohl der Kapitalismus von einer großen Mehrheit der Deutschen unmittelbar mit dem Begriff der Ausbeutung in Verbindung gebracht wird, zu große Einkommensunterschiede und unsichere Arbeitsverhältnisse kritisiert werden und fast die Hälfte der Befragten den Kapitalismus nicht mehr für zeitgemäß hält, ist die Bereitschaft über Alternativen nachzudenken mit nur 13 Prozent nicht sonderlich ausgeprägt.
Die geringe Neigung zu einem alternativen Wirtschaftssystem steht offenbar in einem direkten Verhältnis dazu, dass bisher nur 11 Prozent der Befragten ihre eigene wirtschaftliche Lage als schlecht beschreiben. Nimmt man die Aussage hinzu, dass 71 Prozent die US-amerikanische Protestbewegung angesichts des sozialen Ungleichgewichts für angemessen halten, dann ergibt sich das Bild, dass die Mehrheit der Bevölkerung erst dann bereit ist, über Alternativen nachzudenken, wenn es ihnen wirtschaftlich selber an den Kragen geht.
Zwei Faktoren können demnach die Einstellung zum Kapitalismus und die Bereitschaft, über überlegende Alternativen nachzudenken, künftig verändern: Zum einen die Integration der ausgegrenzten Schwachen in die Mitte der Gesellschaft, zum anderen die Zunahme derjenigen, die ihre eigene wirtschaftliche Lage als schlecht empfinden und sich damit nicht mehr als Wohlstandsgewinner empfinden.
Es spricht nur wenig dafür, dass die Situation der Armen und der von Armut bedrohten in Zukunft stärker als bedeutender Teil unserer Gesellschaft wahrgenommen wird und hieraus in der Folge mehr Solidarität entsteht. Allerdings kann man davon ausgehen, dass angesichts der politischen Verhältnisse, der anstehenden Entscheidungen und der zunehmenden Hinwendung auf die Interessen der Wirtschaft künftig immer mehr Menschen in Deutschland selber von sozialen Einschnitten, Arbeitsunsicherheit und drastischen Einschnitten in Bezug auf ihre wirtschaftliche Lage betroffen sein werden.
Hieraus kann ein kapitalismuskritisches Potential erwachsen, das einen großen Einfluss auf künftige Protest- und Gegenbewegungen hat und dazu beitragen kann, die Machtverhältnisse im Staat neu zu ordnen.
Geht man davon aus, dass sich die Regierenden dieser „Risiken“ bewusst sind, dann ist die konsensuale Nominierung von Joachim Gauck logisch und konsequent. Als überzeugter Vertreter von Kapitalismus. Marktwirtschaft und Wirtschaftsliberalismus wird ihm unter anderem die Aufgabe zukommen, die Bevölkerung zu beruhigen, die Schwachen am Rande der Gesellschaft zu fixieren und die Menschen in ihrem Glauben zu bestärken, dass sie, wenn sie sich nur genügend anstrengen, eines Tages selber zu den Wohlstandsgewinnern zu gehören.