Der Gauck, die Netzgemeinde und die anderen

22.2.2012 – Das Volk ist begeistert von seinem künftigen Präsidenten. Bis zu 69 Prozent der Bevölkerung, so berichtet das ZDF, finden es gut, dass Joachim Gauck Bundespräsident wird. Nur die „Netzgemeinde“ verweigert dem „Präsidenten der Herzen“ die Gefolgschaft und wird dafür von den „Qualitätsmedien“ arg gescholten.

Der Gauck, die Netzgemeinde und die anderenDoch wer soll diese häufig zitierte „Netzgemeinde“ eigentlich sein, wie begründen Publizisten und Kommentatoren im Internet ihre Ablehnung gegenüber Joachim Gauck und wie ist es um die Gründlichkeit bestellt, mit der sich die Vertreter der klassischen Medien mit dem Kandidaten auseinandergesetzt haben?

Der Gauck, die Netzgemeinde und die anderen

Was ist eigentlich diese Netzgemeinde?

Schwer zu sagen, wen die etablierten Medien meinen, wenn sie von der „Netzgemeinde“ sprechen. Sind damit die über 46 Millionen Deutschen angesprochen, die über einen Internet-Anschluss verfügen? Die 20 Millionen Facebook-, 17 Millionen Studi-VZ- oder zwei Millionen Twitter-Nutzer? Sprechen die Konzernmedien von den rund 8,4 Prozent der deutschen Internet-Nutzer, die ein eigenes Blog betreiben oder von denen, die klassische Medien mittlerweile vor allem per Internet konsumieren und sich im Rahmen von Kommentaren an Diskussionen im Netz beteiligen?

Obwohl nie definiert wurde, um wen oder um was es sich bei der vielzitierten „Netzgemeinde“ eigentlich handelt, taucht der Begriff immer dann auf, wenn es darum geht, eine im Web erkennbare Auffassung zu relativieren und in Kontrast zur „echten, öffentlichen Meinung“ zu stellen: Die „Netzgemeinde“ liefert sich Schlachten mit Karl-Theodor zu Guttenberg, mit Hans-Peter Uhl oder mit Ansgar Heveling, sie steht den digitalen Bürgerdialogen von Angela Merkel kritisch gegenüber, sie wehrt sich gegen ACTA oder setzt sich für Freiheit und Anonymität im Internet ein.

Immer wenn ein Redakteur der klassischen Medien zum Begriff „Netzgemeinde“ greift, dann bedient er damit mindestens zwei Assoziationen: Erstens drückt die Verwendung des Begriffes aus, dass sich der Verfasser selber nicht zugehörig fühlt. Zweitens nährt die Bezeichnung „Gemeinde“ die Vorstellung, es handle sich hierbei um eine kleine und sektenartige Gruppe, die außerhalb der „allgemeinen Gesellschaft“ steht.

Um mit der Unsicherheit über diesen Begriff einmal aufzuräumen: Zur „Netzgemeinde“ gehört per Definition jeder, der regelmäßig einen Internet-Anschluss benutzt. Eine Studie des BITKOM (Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V.) kommt im April 2011 zu folgenden Ergebnissen: Vier von Fünf Bundesbürgern nutzen täglich einen PC. Zwei Drittel dieser Nutzer verbringen dabei pro Tag sogar mindestens zwei Stunden am Rechner.

Will man die Bezeichnung „Netzgemeinde“ also überhaupt verwenden, dann sollte man sich zuvor klar machen, dass dieser potentiell rund 80 Prozent aller in Deutschland lebenden Menschen einschließt und darüber hinaus keine Aussagekraft besitzt. Das aktuellste Beispiel der exzessiven Verwendung dieses Begriffs durch die Vertreter der etablierten Medien ist die öffentliche Diskussion über die Kandidatur von Joachim Gauck für das Amt des Bundespräsidenten.

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Die Sache mit den Umfragen

Die Medien feiern Joachim Gauck bereits zum zweiten Mal als „Präsident der Herzen“ und attestieren ihm fast durchgängig Traumquoten in Sachen Beliebtheit in der Bevölkerung. Das ZDF (Forschungsgruppe Wahlen) sieht die Zustimmung zu seiner Kandidatur bei 69 Prozent. Die „Bild-Zeitung“ beruft sich auf eine Emnid-Studie und spricht von 54 Prozent positiver Beurteilung, während RTL das Meinungsinstitut Forsa mit einer Blitzumfrage beauftragt hat, die zum Ergebnis kommt, dass 46 Prozent der Bevölkerung seine Kandidatur positiv bewerten.

Abgesehen davon, dass „repräsentative Meinungsumfragen“ meist mehr über die Auffassung des Statistikers als über die der Befragten selber aussagen – vor allem die Auswahl der Interviewpartner und die konkrete Formulierung der Fragestellung ergibt einen großen Gestaltungsspielraum – ist es bemerkenswert, dass die Ergebnisse untereinander eine Abweichung von 23 Prozent aufweisen. Alle Umfragen, auf die sich Presse und Medien beziehen, wurden annähernd zeitgleich durchgeführt und  nehmen für sich in Anspruch, repräsentativ zu sein.

Interessant in diesem Zusammenhang: Der MDR hat am 20. Februar eine Online-Umfrage nach wenigen Stunden vom Netz genommen, nachdem sich dort innerhalb von kurzer Zeit 78 Prozent (2.950 Stimmen) der Befragten gegen Gauck ausgesprochen haben. Weder die Umfrage selber noch ein Bericht über das Ergebnis stehen auf den Seiten des MDR weiterhin zur Verfügung, obwohl andere, längst abgelaufene Befragungen, dort teilweise über Wochen online gehalten werden.

Der Gauck, die Netzgemeinde und die anderen

Auch eine Betrachtung der zahlreichen Leserkommentare unter Artikeln, in denen Joachim Gauck als Wunschkandidat der meisten Deutschen gefeiert wird, sorgt für Irritationen. Es ist aufgrund ihrer großen Anzahl kaum möglich, die Kommentare empirisch zu bewerten, einzuordnen und auszuwerten. Es fällt allerdings auf, dass sich der überwiegende Teil der Kommentatoren ausgesprochen negativ über seine Kandidatur äußert. Bei derart hohen Zustimmungswerten sollte man eigentlich davon ausgehen, dass sich hier zumindest ein deutlich wahrnehmbarer Anteil der Leser für Joachim Gauck ausspricht. Die Lektüre der Kommentare unter Artikeln beim Spiegel, in der WELT, der ZEIT, der Süddeutschen Zeitung, beim Handelsblatt, bei der Tagesschau und bei vielen anderen Publikationen ergibt allerdings ein anderes Bild.

Die Qualitätsmedien sind hierbei nicht um eine Erklärung verlegen: Es ist die „Netzgemeinde“, die dem Kandidaten, im Gegensatz zur breiten Bevölkerung, die Gefolgschaft verwehrt.

Der Gauck, die Netzgemeinde und die anderen

Netzgemeine gegen Gauck?

Die Argumente der sogenannten „Netzgemeinde“ werden von den Redakteuren der etablierten Medien scharf zurückgewiesen. Hier herrscht vor allem der Vorwurf vor, die Publizisten und Kommentatoren im Netz würden Aussagen von Joachim Gauck verkürzt, verkehrt oder aus dem Zusammenhang gerissen verwenden, um Stimmung gegen den künftigen Präsidenten zu machen.

Immer wieder wird hierbei kritisiert, man habe Gauck zu Unrecht eine inhaltliche Nähe zu Thilo Sarrazin unterstellt, man habe seine Äußerungen zur Occupy-Bewegung und zur Anti-Kapitalismus-Debatte falsch zitiert oder ihm eine ablehnende Position gegenüber Hartz-IV-Empfängern oder Einwanderern in den Mund gelegt.

Da auch ich in den letzten Tagen zweimal kritisch über Joachim Gauck berichtet habe („Hier riecht’s nach Gauck“, „Joachim Gauck: Der späte Sieg der markkonformen Demokratie“) fühle ich mich von dieser Kritik angesprochen und will deshalb Stellung beziehen:

Natürlich hat sich Gauck nicht positiv über die eigentlichen Thesen Sarrazins geäußert. Wäre dies der Fall, dann müsste man über seine Kandidatur wohl auch kaum diskutieren. Gauck hat allerdings – exakt so haben ich und viele andere es auch beschrieben – Sarrazin Mut attestiert, weil er sich traute, ein Thema anzusprechen, das in der Öffentlichkeit weitgehend verschwiegen wird. Und er hat der Politik geraten, aus dem Erfolg von Sarrazins Buch zu lernen.

Ich habe, im Gegensatz zu Joachim Gauck, nicht den Eindruck, dass rassistische und fremdenfeindliche Inhalte in der Öffentlichkeit verschwiegen werden. Man begegnet ihnen an vielen Stellen in verdeckter oder offener Form und es gibt zahlreiche Anzeichen dafür, dass sich in der Mitte unserer Gesellschaft ein ausgeprägter Rassismus breitgemacht hat. Menschenverachtende Ressentiments in einem Buch zu sammeln und ihnen einen pseudo-wissenschaftlichen Rahmen zu verpassen, ist keinesfalls ein Zeichen für besonderen Mut sondern allenfalls ein Indiz für einen ausgeprägten Geschäftssinn.

Wer, angesprochen auf Thilo Sarrazin, dessen „Mut“ in den Vordergrund stellt und gleichzeitig weitgehend darauf verzichtet, dessen krude, absurde und spaltende Thesen entschieden zurückzuweisen, der darf sich nicht darüber wundern, selber zum Gegenstand der Kritik zu werden. Nicht mehr und nicht weniger habe ich Joachim Gauck in diesem Zusammenhang vorgeworfen.

In Bezug auf Gaucks Position gegenüber der Occupy-Bewegung und der Anti-Kapitalismus-Debatte ist es nicht erforderlich, einzelne seiner Aussagen auszuwerten, um eine Vorstellung seiner grundsätzlichen Position zu erhalten. Selbst wenn Gauck die Debatte über den Kapitalismus nicht als „unsäglich albern“ bezeichnet und der Protestbewegung nicht in Aussicht gestellt hätte, „schnell zu verebben“, dann kann angesichts seiner zahlreichen Schriften, Vorträge und öffentlichen Beiträge nicht der geringste Zweifel daran bestehen, dass es sich bei ihm um einen überzeugten Vertreter des Kapitalismus und der sogenannten „sozialen Marktwirtschaft“ handelt.

Gauck bemüht sich nie darum, seine Position zu verschleiern. Während immer mehr Menschen, hierunter auch zunehmend ausgewiesene Konservative, Zweifel am Segen des Kapitalismus und der heilsamen Wirkung unregulierter Märkte äußern, hält Joachim Gauck an der Vorstellung fest, dass Freiheit immer auch die uneingeschränkte Freiheit der Wirtschaft bedingt und dass es nicht hilfreich wäre, wenn die Politik in der Finanzwirtschaft das Sagen hätte.

Der Gauck, die Netzgemeinde und die anderen

Widerstandskämpfer und Bürgerrechtler?

Auch den Vorwurf gegenüber Joachim Gauck, er habe sich mit verschiedenen Äußerungen gegen Hartz-IV-Empfänger gestellt, wird von den „Qualitätsmedien“ scharf zurückgewiesen.

Der „Netzgemeinde“ wird hier unterstellt, sie habe Gaucks Kritik an den Demonstrationen gegen Hartz-IV im Jahr 2004 absichtlich in einen falschen Zusammenhang gestellt, um den Kandidaten zu diskreditieren. Gauck hatte es in einem Interview mit der Berliner Zeitung als „töricht und geschichtsvergessen“ bezeichnet, dass die Demonstranten ihre Proteste unter der Bezeichnung „Montagsdemonstrationen“ abgehalten hatten.

Diesen Titel wollte Gauck exklusiv den Demonstrationen von 1989 vorbehalten wissen, da es sich hier um den fundamentalen Widerstand gegen das DDR-System handelte, während die Hartz-IV-Proteste in einem demokratischen System stattfänden.

In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass Gauck öffentlich die Frage aufwarf, “ob Solidarität und Fürsorglichkeit nicht auch dazu beitragen, uns erschlaffen zu lassen“, dass er am 20. Jahrestag der deutschen Einheit in Bezug auf Hartz-IV Empfänger sagte:„Wir müssen uns nicht fürchten, auch in den Problemzonen der Abgehängten Forderungen zu stellen“ und dass er insgesamt ein Gesellschaftsbild präferiert, in dem jeder einzelne selber für sein Glück und seinen Erfolg verantwortlich ist.

Seine Zurückweisung der Hartz-IV-Proteste führt allerdings auch zu einem anderen Thema: Joachim Gauck wird öffentlich meist als „DDR-Bürgerrechtler“ bezeichnet. Wie auch die Kanzlerin,  lässt er es sich gerne gefallen, im Umfeld von DDR-Widerstand, Systemkritik und Freiheitsbewegung verortet zu werden.

Zur besseren Einschätzung von Gaucks Rolle innerhalb der DDR-Opposition möchte ich aus einem bemerkenswerten Kommentar von Gerhard Rein zitieren, der in der gestrigen Ausgabe der WDR 5 Sendung „Politikum“ übertragen wurde und dem nichts hinzuzufügen ist:

„Nun, was man im heutigen Sprachgebrauch Bürgerrechtler nennt, hat man früher als DDR-Opposition bezeichnet. Zur DDR-Opposition hat Gauck niemals gehört. Er trat auch nicht in den system-kritischen Friedens- und Umweltgruppen im Umfeld der Evangelischen Kirchen je in Erscheinung. In den Publikationen, die in der DDR von kritischen Gruppen illegal herausgegeben wurden, taucht der Name Gauck als Verfasser nicht auf.

Joachim Gauck hat sich im Oktober 1989 in Rostock dem „Neuen Forum“ angeschlossen. Vorher ist ein politischen Engagement gegen den repressiven Staat nicht auszumachen.“

Der Gauck, die Netzgemeinde und die anderen

Der Anti-Kommunist Gauck

Bisher haben wir gesehen, dass Joachim Gauck den „Mut“ von Thilo Sarrazin ohne Notwendigkeit hervorgehoben hat, dass er ein glühender Anhänger des Kapitalismus und der sozialen Marktwirtschaft neuer Prägung ist, dass er ein Freiheitsbild verkörpert, dass vor allem von der Freiheit für Wirtschaft und Märkte getragen ist, dass er dafür eintritt, auch in den „Problemzonen Abgehängter“ Forderungen zustellen und dass er befürchtet, „Solidarität und Fürsorglichkeit“ könnten dazu beitragen, „uns erschlaffen zu lassen“.

In diesem letzten Abschnitt möchte ich mich jetzt noch mit dem Anti-Kommunisten Joachim Gauck beschäftigen, da sich diese Position wie ein roter Faden durch sein öffentliches Leben zieht. Stellvertretend möchte ich zur besseren Einschätzung seinen Beitrag „Vom schwierigen Umgang mit der Wahrnehmung“ in der deutschen Ausgabe des „Schwarzbuch des Kommunismus“, seinen Artikel „Das Ritual der Antifaschisten“ in der ZEIT vom 30. Juli 1998 und seinen Vortrag „Welche Erinnerungen braucht Europa“ vom August 2006 vor der Robert Bosch Stiftung erwähnen. Die folgenden Zitate sind dem letztgenannten Vortrag entnommen.

In allen drei Beiträgen tritt Joachim Gauck für eine historische Gleichbehandlung von NS-Diktatur und DDR-Regime ein. Er geht davon aus, dass Menschen, die über eine lange Zeit in einer Diktatur gelebt haben, ihre “Empathie [und ihre] Sympathie mit den Opfern der Politik des eigenen Staates“ verlieren. Dabei bezieht er sich auf die Beobachtungen von Hannah Arendt im Nachkriegsdeutschland.

Gauck geht davon aus, dass Selbstmitleid an die Stelle von Mitleid tritt, wenn es um die Beurteilung und den Umgang mit der eigenen und der kollektiven Schuld und Verantwortung für totalitäre Systeme und ihre Verbrechen geht. In seinen Augen wurde dieses Phänomen in Westdeutschland unter anderem durch den Einfluss der 68er Bewegung überwunden:

„Auch die 68er, die politisch oftmals auf die falsche Fährte gesetzt haben, dürfen doch glauben, dass sie, als sie das Schuldthema auf den Tisch der Nation legten, einen kulturellen Wandel in Gang gesetzt haben, »Gnadenfieber« (Giordano), Selbstmitleid und Verdrängung sind in einem jahrzehntelangen Lernprozess überwunden worden.“

In Bezug auf den ostdeutschen Kommunismus hat dieser Lernprozess nach der Überzeugung von Joachim Gauck nicht stattgefunden.

„Millionen von Opfern kommunistischer Gewalt bleiben aber ungenannt und weitgehend unbetrauert.“

Die Argumentation Joachim Gaucks führt zu der Schlussfolgerung, dass die DDR-Geschichte erst ebenso intensiv aufgearbeitet werden muss wie die NS-Vergangenheit in Westdeutschland, bevor die ehemaligen Bürger der DDR in der Lage sind, die politischen Verhältnisse vor dem Hintergrund von „Fakten und Realität“ anstelle von „Leitideologien“  zu beurteilen. Damit spricht er einem großen Teil der Menschen in unserer Gesellschaft pauschal die Fähigkeit ab, Politik vor dem Hintergrund von „historischer, politischer und moralischer Wahrheit“ zu bewerten.

Die Stoßrichtung seiner Argumente wird in einem weiteren Zitat deutlich. Sie zielt auf die Rolle der LINKEN als Volkspartei in den neuen Bundesländern:

„Erschreckend das Ausmaß von Ignoranz und Gutgläubigkeit in weiten Kreisen der Linken, deren kritisches Vermögen doch ansonsten besonders stark aus­ geprägt war. Es ist doch normal, dass die Völker das Leid, das sie als Opfer des Kommunismus erleiden mussten, dann in den Mittelpunkt stellen, wenn es das größte von ihnen erlittene Unrecht darstellt.“

Joachim Gauck beruft sich in seinen Schlussfolgerungen immer wieder auf die Schriften von Hannah Arendt, die ihren Begriff vom „loss of reality“ vor dem Hintergrund ihrer Beobachtungen im Nachkriegsdeutschland prägte. Was Gauck allerdings übersieht oder doch zumindest verschweigt ist die Tatsache, dass Hannah Arendt ausschließlich den Nationalsozialismus und den russischen Stalinismus als totalitäre beschreibt. Nach ihrer Definition gehören weder der italienische Faschismus, noch der Franquismus oder das System der DDR zu den totalitären Systemen.

Die Differenzierung ergibt sich nach Arendt aus der Frage, ob sich eine Diktatur auf sämtliche Bereiche des menschlichen Lebens, nicht nur auf die politischen, bezieht, ob in ihrem Zentrum eine Massenbewegung steht , ob Verbrechen und Massenmorde die Regel sind und ob sie vom Streben nach Weltherrschaft geleitet ist. Ohne Zweifel trifft keines dieser Kriterien auf das DDR-System zu. Folglich lassen sich Hannah Arendts Beobachtungen und Schlussfolgerungen nicht auf die ostdeutsche Geschichte übertragen, wie es Gauck dennoch tut.

Auch Gaucks Einschätzung, wonach in Westdeutschland Verdrängung und Selbstmitleid gegenüber der NS-Vergangenheit überwunden sind, ist zweifelhaft. Gerade heute stellen wir fest, dass rechtsextreme Ideologien eine weitaus größere Verbreitung aufweisen, als lange angenommen wurde. Nicht nur die Terrorakte der NSU und der Umgang von Politik und Behörden mit rechtsradikalen Strukturen lassen Zweifel daran aufkommen, wie angemessen heute in unserem Land mit der NS-Vergangenheit umgegangen wird. Auch der weit verbreitete Rassismus, der sich bis in die Mitte der Gesellschaft zieht, spricht nicht für einen vorbildlichen Lernprozess, wie ihn Gauck postuliert.

Der Gauck, die Netzgemeinde und die anderen

Not my President

Insgesamt muss man die Gleichsetzung, die Gauck in Bezug auf das NS-Regime und das DDR-System betreibt, kritisch bewerten. Sie führt einerseits zwangsläufig zu einer Verharmlosung der NS-Verbrechen und verhindert andererseits eine ergebnisoffene Debatte über Alternativen zum Kapitalismus, zur sozialen Marktwirtschaft heutiger Prägung und zur fortschreitenden Machtergreifung der „Märkte“ über die Demokratie.

Dass sich Joachim Gauck zusätzlich über weite Teile der ehemaligen DDR-Bevölkerung erhebt – zu der er selber gehört – und ihr pauschal die Fähigkeit abspricht, darüber entscheiden zu können, welche politischen Strukturen sie für geeignet hält, um Gerechtigkeit, Solidarität und ein friedliches Zusammenleben zu erlangen, bringt ihm den häufig auftauchenden Vorwurf der Borniertheit ein, der sich durch Kommentare, Blogartikel und andere Statements zieht.

Ein begründetes Interesse an sozialistischen Positionen mit der Begründung abzulehnen, es handle sich bei ihren Vertretern um „Opfer“ eines totalitären Systems, die sich bislang nur nicht hinreichend mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt hätten und in Selbstmitleid verharren, zeichnet das Bild eines arroganten Menschen, dem es an Neutralität und Einfühlungsvermögen mangelt. Joachim Gauck hat den traditionellen, westdeutschen Anti-Kommunismus erst zu einem Zeitpunkt für sich entdeckt, zu dem der Widerstand gegen das DDR-System bereits opportun und nicht mehr mit persönlichen Risiken verbunden war. Sich dennoch als „DDR-Bürgerrechtler“ zu gerieren erscheint weder zutreffend noch anständig.

 

Ich weiß nicht, ob ich nach Definition der Qualitätsmedien, zu der oft zitierten „Netzgemeinde“ gehöre. Ich weiß allerdings, dass ich, wie viele andere Publizisten und Kommentatoren im Internet, in der Lage bin, einen Präsidentschaftskandidaten vor dem Hintergrund seiner Schriften, Artikel und Vorträge einzuschätzen und einen zutreffenden Eindruck von seinen Auffassungen und Standpunkten zu gewinnen.

Es ist die intensive Auseinandersetzung mit den Positionen von Joachim Gauck, die mich dazu bewegt, ihn als Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten abzulehnen. Seine Äußerungen über Thilo Sarrazin und die Occupy-Bewegung, über Hartz-IV-Empfänger und Einwanderer,  über die Stuttgart21 Bewegung oder die Energiewende mögen meinen Eindruck von Gauck bestätigen. Sie bilden aber keineswegs die Grundlage meiner Einschätzung.

Ich rate den Vertretern der „Qualitätsmedien“ ihre unkritische Zustimmung zu Gauck einmal faktenbasiert und umfassend zu überprüfen, bevor sie dessen Ablehnung als populistische, nachlässige und irreführende Propaganda einer nicht näher definierten „Netzgemeinde“ diffamieren.

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