Irkutsk – St. Petersburg – Moskau – Irkutsk. Ein Reisetagebuch.

Ich musste fast nachdenken, als ich vor einigen Minuten das Passwort in das Eingabefeld dieser Seite tippte. Das spricht für sich. Ja, meine Leser und Leserinnen, ich habe für fast zwei Monate geschwiegen. Natürlich nicht freiwillig – das versteht sich von selbst.

Die Technik machte alle meine Pläne, mit welchen Einträgen ich diesen Blog seit Mitte Jänner füttern wollte, zunichte. Streng genommen war es nicht die Technik an sich, sondern deren Unverträglichkeit von Flüssigem. Dies und meine um einiges länger als geplant dauernde Reise in die zwei russischen Hauptstädte sind der Grund für die lange Zeit des Schweigens.

Nun gibt es aber wieder ein Häppchen für euch: mein Reisetagebuch. Es ist wohl eher ein ganzer Happen an Einträgen, die ich während meiner Reise nach St. Petersburg und Moskau verfasst habe. Diese habe ich übrigens eins-zu-eins in diesen Blog übernommen. Unverfälschte und momentane Beobachtungen, Empfindungen und Beschreibungen sind es also.

Mein Reisetagebuch beginnt am 27. Januar. An jenem Abend stieg ich mit meinem englischen Kommilitonen Jeremy in den Direktzug von Irkutsk nach St. Petersburg. Vier Tage und fünf Zeitzonen später kamen wir in der russischen „nördlichen Hauptstadt“ an. Ich verbrachte fünf unvergesslich schöne und ereignisreiche Tage in jener Stadt, die mir europäischer erschien als Europa selbst. Am 5. Februar schließlich verließ ich Piter in Richtung Moskau. Die russische Hauptstadt überraschte mich in zweierlei Hinsicht: erstens blieb ich um einiges länger, als geplant; zweitens – und das ist einer der Gründe für ersteres – gefällt mir Moskau. Und so kam es, dass ich zwei Wochen dort verweilte und mit Nelson und Helena – zwei im ersten Semester lieb gewonnenen (und leider ehemaligen)Kommilitonen - um Häuser, Museen und Bars zog. Hiermit ein Gruß nach Moskau.

Im Folgenden mein Reisetagebuch. Viel Spaß und Durchhaltevermögen.

27. Januar 2011, 23.00 Uhr nach Irkutsker Zeit

Was für ein Tag: Er begann damit, dass eines meiner Halbliter(bier)gläser, das ich tagtäglich morgens mit kochend heißem Wasser fülle, um darin einen Schwarzteebeutel zu versenken, aus heiterem Himmel zerbarst und seinen Inhalt je zu einer Hälfte auf meine Beine, zur anderen auf meinen Laptop ergoss. Die Oberschenkel brannten, mein Computer gab seinen Geist auf.

Nach einem nachmittäglichen Mittagessen im Zentrum, bestehend aus Sushi (köstlich) und Pizza (essbar), nahm die Aufregung nicht wirklich ein Ende. Nachdem mein englischer Reisekompagnon und ich den Jahresumsatz eines lokalen Supermarkts um einige Prozentpunkte erhöht hatten und fünf große Einkaufstüten mit Reiseproviant nach Hause geschleppt hatten, packte ich in kürzester Zeit meine sieben Sache und vergaß, mein Handy, meine Kamera und meinen iPod aufzuladen. Deswegen sitze ich nun hier und schreibe. Wir hasteten zur Haltestelle, wuchteten uns und die Unmengen an Gepäck (zum Großteil bestehend aus Ess- und Trinkbarem) in die marschrutka und fuhren zum Hauptbahnhof.

Ein Großbrand empfing uns. Ein Nebengebäude des Bahnhofs stand lichterloh in Flammen und am Vorplatz arbeitete ein Großaufgebot an Feuerwehr und Polizei daran, den Brand zu löschen und den Verkehr zu regeln. Der Umstand, dass wir es zudem mit der Zeit recht knapp bemessen hatten, verlieh dem ganzen Schauspiel noch eine besondere Note.

Nachdem wir uns jedoch von meinem ehemaligen Zimmergenossen (ein Gruß nach Europa, übrigens, Christoffer) und einer französischen Studienkollegin verabschiedet hatten, wurde alles auf einen Schlag besser (und nein, das hängt nicht mit dem Lebewohl zusammen). Der Waggon, der für 91 Stunden und 40 Minuten unsere Heimat sein sollte, begeisterte. Ich schritt über den mit einem edel aussehenden Teppich ausgelegten Korridor zu meinem Platz, verstaute mein Gepäck und machte es mir gemütlich. Unser Wagen – fast leer, es ist ruhig; Zeit, mich mit dem Personal anzufreunden.

28. Januar 2011, 10.30 Uhr nach Irkutsker Zeit

Ich liebe sie, die Nächte in russischen Zügen. Um Punkt elf Uhr wird das Licht gedimmt (was mich übrigens davon abhielt, meinen gestrigen Eintrag fertigzuschreiben), man unterhält sich im Halbdunkel noch mit seinem Nachbarn und döst vor sich hin. Im Halbschlaf dachte ich mir: russische Züge sind wie große, sanft schaukelnde fahrende Hängematten. Man wird in den Schlaf gewiegt, das monotone Geräusch des rollenden Waggons verflüchtigt sich rasch; und dann – Stille.

Es ist nun 10.30 Uhr nach Irkutsker Zeit. Diese Zeitzone haben wir aber über Nacht hinter uns gelassen. 15 Stunden sind wir schon auf Schienen unterwegs – und erreichen erst in drei Stunden die nächste große Stadt: Krasnojarsk am Jennisej. Ich blicke nach links und nach rechts. Nichts als Taiga. Nur von Zeit zu Zeit ziehen kleine Dörfer am Fenster vorbei.

Und ich liege gemütlich auf meiner Pritsche, sehe zu, wie eine Bedienstete den Flur mit dem Staubsauger auf Hochglanz bringt und denke mit einem Schmunzeln an einen morgendlichen Vorfall zurück: verzweifelt nach einer Steckdose für meinen leeren Handyakku suchend, wand ich mich an die Chefin meines Waggons. Ja, am Anfang des Ganges gebe es eine Steckdose – sie würde mir aber davon abraten; Diebstähle hätte es schon öfters gegeben, sagte sie. Ob es denn sonst keine Steckdose gebe, fragte ich nach. Meine Frage verneinte sie. Anfangs. Doch dann: „Ach, wissen Sie was, ich lade Ihr Handy in meinem Abteil auf, und Sie kaufen dafür bei mir einen Schokoriegel.“ 15 Rubel und ein Schokoriegel wechselten den Besitzer. Solche Geschäfte fangen offenbar schon im Kleinen an.

28. Januar 2011, 19.52 Uhr nach Irkutsker Zeit

Wir stehen hier in Mariinsk, sechs Stunden vor Novosibirsk. Über 24 Stunden liege, sitze, esse, trinke, lese, schreibe und lache ich schon im Waggon Nr. 12 des Zugs Nr. 009 „Baikal“ von Irkutsk nach St. Petersburg. Bis jetzt verflog die Zeit wie im Fluge, obwohl die Fahrtgeschwindigkeit weit davon entfernt ist. Um eine abgedroschene Phrase zu verwenden, könnte ich behaupten, die Langsamkeit wieder entdeckt zu haben – mit der Trägheit das stille Beobachten, das stundenlange aus-dem-Fenster-Schauen und Zeit, nachzudenken. Es ist ein Erlebnis der besonderen Art, eine Reise mit der Transsib, das wage ich jetzt schon – nach nicht einmal einem Viertel der Strecke – zu behaupten.

Nicht zu übersehen ist es, dass ich in einem Flaggschiff der RZD (Rossiskaja Zheleznaja Doroga, Russische Eisenbahn), reise. Mein Waggon, erst vor zwei Jahren in Dienst gestellt, strotzt vor Sauber- und Aufgeräumtheit, das Personal ist äußerst zuvorkommend und freundlich. Zwei Mal täglich wird gesaugt und gewischt. Und ein besonderes, mich immer wieder erheiterndes Detail am Rande: um den edlen Läufer im Gang vor Schmutz zu schützen, ist auf dem Teppich noch ein weiterer ausgelegt – der nach jedem Halt neu gefaltet und ausgerollt wird. Welches System dahintersteckt, habe ich bis jetzt noch nicht begriffen.

Meine Reise von Moskau retour nach Irkutsk wird vermutlich um einiges weniger luxuriös ausfallen, als jene momentan. Ergo: genießen. Absurd, aber wahr: Es fällt schwer, sich an der unendlichen Weite Sibiriens sattzusehen. Stundenlang zieht eine tief im Schnee versunkene Landschaft vorbei – Hügel, Flüsse, Wiesen und Wald, Wald, Wald. Abgesehen von den Betonblöcken in größeren Siedlungen und Städten dominieren kleine Häuschen aus Holz das Bild; und fügen sich perfekt in die Umgebung ein. „Ba“, kann ich da nur sagen. Oder, wie bei uns: „Wow“!

29. Januar 2011, 12.20 Uhr nach Irkutsker Zeit

Guten Morgen! Ich blicke in die Weite der schneebedeckten sibirischen Tiefebene, es ziehen unzählige Datschen (russische Wochenendehäuser mit „Selbstversorgungsfunktion“) vorbei. Und aus den Lautsprechern im Waggon Nr. 12 plärrt „Radio Datscha“. Wie passend, denke ich mir. In der Nacht haben wir Novosibirsk passiert und heute früh Omsk, eine weitere sibirische Millionenstadt. Ich wachte gerade auf, als wir in den Omsker Bahnhof einfuhren. Spontan packte mich eine unbändige Lust auf ein frisches, warmes Croissant – wohlwissend, dass Croissants in Sibirien etwa so einfach zu finden sind, wie ein Funken Anstand bei meinem Premier zu Hause. Ich beschloss also, die 35 Minuten Aufenthalt für meine aussichtslose Suche zu nutzen. Und kehrte mit leeren Händen zurück. Wenigstens kann ich von mir behaupten, einen Fuß auf Omsker Boden gesetzt zu haben.

28 Mal hat der „Baikal“ schon gehalten. 35 weitere Bahnhöfe fährt er noch an; der 61. Halt: St. Petersburg. Ich freue mich. Die nächste große Stadt ist Tjumen’ in gut sieben Stunden. Und kurz nach Jekaterinburg werden wir in etwas mehr als 13 Stunden im Ural die eurasische Grenze überqueren. Hallo, Europa.

30. Januar 2011, 14.00 Uhr nach Irkutsker Zeit

Hallo, Europa! Mein Waggon Nr. 12 hat über Nacht die Uralmetropole Jekaterinburg passiert – und kurz darauf die Grenze zwischen Asien und Europa. Nun bin ich also wieder auf meinem Mutterkontinent; und weiß nicht so recht, ob ich mich darüber freuen soll. Europa hat mich jedenfalls stürmisch begrüßt. Das sanfte Schaukeln der vergangenen zwei Nächte wurde durch ein energisches Rütteln abgelöst. Kurios, dass mich die nächtliche Fahrt an meine tagtäglichen Höllenritte in Irkutjaner marschrutkas erinnerte. Europa schüttelte mich in einen unruhigen Schlaf.

Jetzt aber, um zehn oder elf Uhr Ortszeit – so ganz genau weiß das in der russischen Endlosigkeit niemand – ist alles gut. Ich genoss meine erste Dusche seit meiner Abfahrt. Kein Scherz, aber es gibt wirklich eine Dusche im Zug; und für 100 Rubel darf man dem unerwarteten Luxus sogar frönen.

Ich sitze nun hier, habe die freundliche Waggonchefin (die zwei Mal täglich saugt und weitaus häufiger den Teppich über dem Teppich neu auslegt) schon einige Male mit ihren zum Verkauf stehenden Kreuzworträtselheften abgewiesen, und auch nach einem Bier am Morgen dürstete es mich nicht. Ein enttäuschtes Gesicht war die Folge.

Dass ich gestern keinen zweiten Eintrag verfasst habe (und ja, zu meinem eigenen Erstaunen nehme ich das Projekt „Reisetagebuch“ wirklich ernst) lag daran, dass mein englischer Reisegefährte und ich stundenlang mit einem „super-rebjonok“ – einem von uns so benannten „Super-Kind“ – beschäftigt waren. Der usbekische Dreikäsehoch turnte stundenlang in unserem Abteil und auf uns herum und fand im Handumdrehen heraus, wie unsere Kameras, ein E-Book, ein iPod touch und ein Deodorant funktionieren. Für die von ihm energisch verlangte Bierflasche war er dann aber doch etwas zu jung. Ich habe Tränen gelacht.

Jetzt befinden wir uns im Nirgendwo zwischen Glasow und Kirow und rollen gemächlich durch eine tiefverschneite Landschaft. In weniger als 24 Stunden bin ich in St. Petersburg. Ура!

31. Januar 2011, 13.25 Uhr nach Irkutsker Zeit

Noch eineinhalb Stunden und mein Waggon Nr. 12 fährt in den Ladoga-Bahnhof in St. Petersburg ein. Es dämmert noch, um halb neun Uhr morgens. In diesen Breiten ist es im Winter eben lange zappenduster. Den ganzen gestrigen Tag über hat sich unser Waggon langsam gefüllt. Je näher wir unserem Ziel kamen, desto weniger Leute stiegen aus – und desto mehr ein. Die vergangene Nacht gestaltete sich also so, wie ich mir vor meiner Abfahrt in Irkutsk vor 89 Stunden meine Reise in die „nördliche Hauptstadt“ vorgestellt hatte: arm an Sauerstoff und reich an den seltsamsten Geräuschen schlafender und nicht schlafender Menschen.

Dessen ungeachtet ziehe ich ein vorläufiges Fazit meiner spontanen Idee „Warum denn nicht im Zug nach St. Petersburg?“. Es ist ein Erlebnis. Eines der langwierigen Sorte. Ich bereue aber dennoch keine Sekunde der Reise. Vier Tage zu lesen, zu essen, zu trinken, zu schlafen; und nebenbei durch halb Russland zu fahren – das beeindruckt. Und ich freue mich jetzt schon auf meine Rückfahrt von Moskau in meine Heimat für das kommende halbe Jahr. Nun aber heißt es, in St. Petersburg anzukommen, eine Bleibe zu suchen und auf Entdeckungsreise durch die Stadt zu gehen.

03. Februar 2011, 23.10 Uhr nach Petersburger Zeit

Es ist mein vorletzter Abend in St. Petersburg. Ein gutes Zeichen, dass dies mein erster Eintrag seit meiner Ankunft ist. Ich hatte bis jetzt keine Zeit, ich war zu sehr mit der Stadt an sich beschäftigt. Kurz: St. Petersburg ist eine Wucht. Daran hatte ich auch vor meiner Ankunft nicht gezweifelt. Nach nunmehr vier Tagen hier bin ich mir dessen aber endgültig sicher.

05. Februar 2011, 01.15 Uhr nach Petersburger Zeit

(Anm.: Dieser Eintrag wurde in leicht angeheitertem Zustand verfasst.)

In meinem letzten Eintrag wollte ich noch weiter ausholen, aus diesem Plan wurde aber nichts, da ich sofort nach dem vierten Satz ins Bett fiel und einschlief.

Wurscht.

Jetzt sitze ich im Zug nach Moskau. Wäre ich nicht mit meinem 70-Liter-Rucksack über die vier Kilometer des Newskij-Prospekts gesprintet, hätte ich den Zug versäumt. Ich vergnügte mich bis zur (und das meine ich wortwörtlich) letzten Sekunde in einer Petersburger Bar. Einfach zu gemütlich dort.

Nun aber geht es volle Fahrt voraus in die russische Hauptstadt. In den Moloch Moskau. Ich bin gespannt. Und immer noch begeistert von Petersburg. Ich schreibe euch.

06. Februar 2011, 0.13 Uhr Moskauer Zeit

Tag zwei in Moskau. Ich liege auf der aufblasbaren Matratze meines Couchsurfing-Gastgebers neben meinem mexiko-amerikanischen Reisegefährten und lasse die letzten beiden Tage in der russischen Hauptstadt Revue passieren.

Gestern kam ich an, müde und noch leicht gestresst von meinem Sprint zum Bahnhof. Der Moloch Moskau begrüßte mich schon eine Stunde vor der Einfahrt des Zuges in den Bahnhof mit seinen aus riesigen Wohnblöcken bestehenden Schlafbezirken am Stadtrand. Das Auge, eben erst an den Prunk der Petersburger Innenstadt gewöhnt, erschrak.

Moskau. Das Zentrum des zentralisierten Russlands. Hier konzentriert sich alles: Geld, Macht… Vor allem Geld und Macht, wie mir scheint. Von der Stadt selbst habe ich bis jetzt noch wenig gesehen. Lubjanka, MGU, Roter Platz und Umgebung – das war’s. Für morgen werden aber schon umfangreichere Pläne geschmiedet.

09. Februar 2011, 00.24 Uhr nach Moskauer Zeit

Der vierte Tag in Moskau geht gerade in diesem Moment zu Ende. Meine Tage hier in der russischen Hauptstadt, sie verlaufen anders als jene in St. Petersburg. Sie beginnen selten vor ein Uhr mittags. Und die Nachmittage verbringe ich meistens durch das Zentrum streunend und (ja und vor allem) in Cafés und Bars. Es lebe die soziale Komponente. Moskau selbst fasziniert mich eben (noch) nicht. Leider. Aber es beeindruckt. Es beeindrucken die Menschenmassen, der zur Schau gestellte Reichtum, die Größe der Stadt. Ich bin froh, in Irkutsk studieren zu dürfen. Mein Sibirien, das vermisse ich jetzt schon.

(Anm.: Man achte ab diesem Eintrag darauf, wie sich meine Einstellung Moskau gegenüber verändert.)

13. Februar 2011, 15.02 Uhr nach Moskauer Zeit

Tag acht in der russischen Hauptstadt. Und sie wird mich nicht los. Mir scheint, als sei ich schon vor einer Ewigkeit in Irkutsk in den Zug nach St. Petersburg gestiegen. Fast zweieinhalb Wochen ist das nun her; zweieinhalb Wochen, in denen ich viel sehen und erleben durfte, zweieinhalb Wochen, in denen ich mich wieder an den westlichen Komfort gewöhnte (was mir anfangs gewisse Schwierigkeiten bereitete); zweieinhalb Wochen, in denen ich viele neue Leute kennenlernte. (Anm.: Meine Grundschulaufsätze unterscheiden sich nur unwesentlich vom eben Gelesenen.)

Und das Beste: Meine nicht enden wollende Reise erfährt in dieser Woche seine Fortsetzung. Ich fliege (und nicht wie geplant „fahre“) erst am kommenden Sonntag zurück nach Irkutsk. Das habe ich gestern beschlossen. Es lebe die Spontanität.

Mir bleibt also noch eine Woche in jener Stadt, aus der ich schon einige Stunden nach meiner Ankunft entweder in das schöne St. Petersburg oder in das vertraut-heimelige Irkutsk flüchten wollte. Mittlerweile hat mich aber auch die fette Dirne Moskau in ihren Bann gezogen.

Sie hat ihre schönen Seiten: beeindruckende Architektur, exzellente Museen und stille Winkel, die die unglaubliche Hektik der Großstadt vergessen lassen. Diese schönen Seiten muss man suchen – zu leicht gehen sie im Hauptstadttrubel unter.

Ich habe mich also bereits an das den meisten Nicht-Moskowitern (und auch einigen Moskowitern) verhasste Moskau gewöhnt. Mein in Irkutsk entschleunigter Lebensstil hat wieder radikal an Fahrt aufgenommen. Hier schwimme ich im Laufschritt mit dem Strom, zwänge mich in überfüllte Metrozüge, hechte endlose Rolltreppen nach oben und nach unten und wundere mich nicht mehr über die Menschenmassen und endlose Staus auf zehnspurigen Boulevards, in denen jedes dritte Auto ein hochpreisiges Geländefahrzeug ist und vermutlich schon im Stand mehr an Treibstoff verbraucht, als fünf weitaus stadt- und besonders moskautauglichere Kleinwagen. Moskau, die fette Dirne, sie protzt.

16. Februar 2011, 19.54 Uhr nach Moskauer Zeit

Es ist bemerkenswert, wie sehr sich meine Einstellung zu Moskau in den letzten zehn Tagen geändert hat. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich seit meiner Ankunft schrittweise an den Moskauer Alltag gewöhnt habe; vielleicht liegt es daran, dass mich die schiere Größe der Stadt und die unglaubliche Anzahl an allem nicht mehr erdrückt und dass ich in einem Takt mit Moskau lebe. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich mich von der unwirtlich scheinenden anonymen Oberfläche der Stadt allmählich auf eine zweite Ebene vorarbeite, die mit Details und durch Kleinigkeiten begeistert.

Einige der Vorurteile über Moskau, die einem im restlichen Russland regelmäßig und ausführlich dargelegt werden, kann ich jetzt schon entkräften.

Vorurteil #1. Die Moskowiter sind unfreundlich und schroff: Bis jetzt durfte ich überall – sei es in der Metro, im Restaurant, auf der Straße, im Museum oder im Club ausschließlich positive Erfahrungen mit den als hochnäsig verschrienen Einwohnern Moskaus sammeln.

Vorurteil#2. Moskau ist hässlich: Zugegeben, Moskau hat auf den ersten Blick – besonders, wenn man direkt aus St. Petersburg in die Stadt kommt – wenig Schönes zu bieten. Riskiert man jedoch einen zweiten Blick, so kann man dem Architekturmix, der vom mittelalterlichen Steingemäuer über sowjetische Betonblöcke (die auch ihren Reiz haben, übrigens) bis hin zu modernen Glaspalästen reicht, einiges abgewinnen. Moskau ist auf seine Art schön – so wie jede dynamische Metropole dieser Welt.

Vorurteil#3. Moskau ist chaotisch: Zweifelsohne herrscht in einer Zehn-Millionen-Metropole eine Art ständiges Chaos. Es wird aber gelenkt und geregelt, verläuft so in geplanten Bahnen. Hupkonzerte sind selbst an den verstopftesten Kreuzungen kaum zu hören, die Verkehrsregeln werden respektiert (ja, sogar Ampeln bringen den gemeinen Moskowiter zum Anhalten), Sitzplätze in den öffentlichen Verkehrsmitteln bereitwillig Älteren überlassen und die Moskauer Metro – diese unterirdische Riesenkrake – sie begeistert durch ihre Effizienz im Chaos. Vom gewohnten russischen „bezporjadok“ (Unordnung) ist im verwestlichten Moskau wenig zu spüren.

21. Februar 2011, 18.28 Uhr nach Irkutsker Zeit

Иркутск, Иркутск – ich habe mich entwöhnt von dir. Das war einer meiner ersten Gedanken, als ich heute nach meiner Landung auf dem Irkutsker Flughafen mit der marschrutka durch die halbe Stadt nach Hause fuhr. Nach dem Pump und Protz in St. Petersburg und Moskau, der europäischen Ordnung und Sauberkeit dort wirkt meine sibirische Heimat wie ein trauriges, dreckiges Mauerblümchen – nach einer schlaflosen Nacht über den Wolken und während des momentanen Schneesturms, jedenfalls.

Aber obwohl ich Moskau nicht freiwillig verlassen habe, freue ich mich, wieder hier zu sein. Irkutsk ist mir mehr ein Zuhause. Mich beruhigt die Einfachheit hier, die allgegenwärtigen und nicht zu übersehenden Kompromisse an allen Ecken und Kanten. Die beiden in Geld und westlichem Stress ersaufenden Hauptstädte sind davon weit entfernt.

Ganze drei Wochen war ich unterwegs. Zugegebenermaßen um einiges länger, als geplant. Ich bereue dennoch keinen einzigen Tag meiner Reise. Weder noch bereitet mir der Umstand Unbehagen, dass ich zehn Tage Unterricht „verpasst“ habe. Nun aber beginnt (wohl oder übel) der Studentenalltag. Mein Stundenplan ist in Arbeit. Meine Reisepläne für das restliche Semester übrigens auch.

27. Februar 2011, 21.38 nach Irkutsker Zeit

Dies ist mein allerletzter Eintrag in meinem auf mittlerweile 23 Seiten angewachsenen Reisetagebuch. Vollgekritzelte 23 Seiten, die mir bei nochmaligem Durchlesen all das Erlebte wieder vor Augen führen.

Ich bin nun endgültig wieder in Irkutsk angekommen. Der Studienalltag hat mich mit einem vollen Stundenplan wieder – vom Studentenheim habe ich mich allerdings verabschiedet. Aus guten Gründen und mit der Gewissheit, dass ein halbes Jahr in einem russischen Heim reicht, um sogar das kleinste aufkeimende Gefühl von Freiheit und die bescheidensten Annehmlichkeiten einer Wohnung schätzen zu lernen. Ich wohne nun mit Witja und Sascha, einem Pärchen in den Endzwanzigern, in der Nähe des Bahnhofs in einer nicht allzu großen, aber äußerst gemütlichen Zweizimmerwohnung. Es ist ungewohnt, sich vom Kollektivismus teilweise zu verabschieden, ein eigenes Zimmer zu haben und in einer echten Küche zu kochen. Ich bin zufrieden. Sehr zufrieden, sogar.

Mit Witja und Sascha verstehe ich mich hervorragend; und ihr Kater Persik ist mir jetzt schon ans Herz gewachsen. Der Umstand, dass ich nun so gut wie rund um die Uhr „echtes“ Russisch höre, ist meinen Sprachkenntnissen sicherlich auch nicht hinderlich.

Was mich derzeit daran hindert, diesen Blog auf den aktuellsten Stand zu bringen, sind die Folgen eines explodierten Halbliterglases. Ich bin also bis auf weiteres ausschließlich in der analogen Welt unterwegs – was zugegebenermaßen auch seine guten Seiten hat.

Bald verabschiede ich mich für einige Tage auch von der Zivilisation und werde mit Auto, Fahrrad und zu Fuß 500 Kilometer auf dem Baikalsee zurücklegen. Das nächste Reisetagebuch ist also schon in Aussicht.



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