Es ist ein sehr heißer Montag im September, was meine Nervosität nicht gerade mildert. Etwas hibbelig stehe ich vor dem vereinbarten Café in Köln. Hier treffe ich mich für ein Gespräch mit der amerikanischen Jugendbuchautorin Ruta Sepetys. Nachdem ich Ruta und Ursula Dick (vom Carlsen Verlag) gefunden habe, wird sich erstmal herzlich begrüßt. Ein halbwegs schattiges Plätzchen und erste angeregte Plauderei später, stellt sich eine sehr liebenswürdige Ruta Sepetys meinen Fragen und Schwärmereien.
Sandy: Ruta, es ist ganz großartig, dass wir diese Gelegenheit für ein Treffen gefunden haben. Es freut mich wahnsinnig!
Ruta: Mich auch! Unser kleiner Austausch neulich über Twitter war ganz süß. Es bedeutet mir sehr viel, meine Leser kennenlernen zu dürfen. Ich danke also DIR für dein Interesse!
Sandy: Zuerst möchte ich gerne mit dir über dich als „Geschichtssuchende“ sprechen. Wo und wie ist diese Faszination entstanden, dich auf die Suche nach dem Verborgenen zu begeben?
Ich glaube, das rührt aus einem grundsätzlichen Gefühl der Neugierde. Sich vorzustellen, dass es so viele Geheimnisse gibt. Wieso wir so einige Teile der Geschichte kennen, aber weshalb uns andere Aspekte vollkommen unbekannt sind. Die Menschen hinter den Kulissen, die niemand von uns sieht, haben mich wohl immer schon am meisten fasziniert. Menschen die keine Möglichkeit hatten, ihre Geschichte zu erzählen. Ich war immer eine besonders neugierige Person, schon seit meiner Kindheit. Anderen dabei zuzuhören, wie sie Familiengeschichten austauschten, liebte ich sehr. Während die meisten Kinder sich beginnen zu langweilen, wenn die Eltern oder Großeltern in Erinnerungen schwelgen, blieb ich ganz still sitzen und hörte mir alles gebannt an. Und diese Neugierde hat mich nie losgelassen.
Sandy: Also, war es in dem Sinne fast Schicksal, dass du diesen Weg gegangen bist…?
Ruta: Nun ja, historische Jugendbücher zu schreiben war nicht mein erster Instinkt. Nachdem ich mich entschlossen hatte, mich dem Schreiben zu widmen, war mein erster Buchentwurf noch für sehr viel jüngere Leser (für Kinder ab ca. 10 Jahre). Es war eine humorvolle Geschichte, nichts historisches. Parallel dazu, entstanden während eines Schreibworkshops, die ersten Seiten meines [späteren] Debüts „Und in mir der unbesiegbare Sommer“.
Als ich einem Agenten die humorvolle Geschichte zuschicken wollte, entschloss ich mich auf die letzte Minute die drei Seiten des historischen Projekts mitzusenden. Der Agent rief mich an und sagte mir, er hätte beide Arbeiten gelesen. Das humorvolle Buch wäre sicher sehr einfach zu veröffentlichen, aber von dieser Art Geschichte würde es auch schon sehr viel auf dem Markt geben. Allerdings gefiel ihm sehr die von mir eingesetzte authentische Stimme im historischen Projekt und wollte davon gerne mehr lesen. Er bestärkte mich darin, mich intensiver mit der historischen Geschichte auseinander zu setzen. Also, schmiss ich das Manuskript des humorvollen Buchs – an welchem ich zwei Jahre gearbeitet hatte – in den Papierkorb und begann „Und in mir der unbesiegbare Sommer“ zu schreiben. Ich bin so dankbar für diesen Rat und das ich diesem wirklich gefolgt bin.
Sandy: Das ist ein guter Übergang. Derzeit lese ich nämlich dein Debüt. Ich mache es anders herum, weißt du? Zuerst das neueste Werk lesen und danach die früheren. Jedenfalls bin ich sehr überwältigt von der Intensität und der Grausamkeit, die auch sehr präsent in „Salz für die See“ ist. Wieso hast du dich gerade für diese Zielgruppe der Leser entschieden, Leser im Teenageralter?
Ruta: Ich erinnere mich immer gerne daran, wie es war, als ich in dem Alter Bücher gelesen habe. Die Intensität von Emotionen, die ich fühlte. Es ist doch so, dass Bücher die wir in jungen Jahren lesen, uns auch später noch begleiten. Sie hinterlassen einen langjährigen Eindruck. Wenn wir älter werden, sind wir plötzlich zu beschäftigt und lassen uns vom Alltag leicht mitreißen. Wir interpretieren Geschriebenes durch eigene Lebenserfahrung etwas differenzierter. Deshalb bin ich Autorin für historische Jugendbücher. Ich möchte den Kids Geschichten erzählen, die sie auch später noch begleiten damit sie…
Sandy: …diese Bücher mit in die Zukunft tragen und weitergeben…?
Ruta: Ganz genau. Die Geschichten ihren Kindern näher bringen, damit sie nicht in Vergessenheit geraten. Aber nun möchte ich dich gerne mal etwas fragen. Wie bist du auf meine Arbeit und „Salz für die See“ aufmerksam geworden?
Sandy: Einige Menschen aus der Buch-Community und Freunde von mir (die auch Blogger sind) haben deine Bücher gelesen. Deine Arbeit hatte ich also schon seit einiger Zeit auf dem Radar, habe mich jedoch nicht so richtig herangetraut. Ich wusste, dass mich diese Art von Geschichten emotional umhaut. Man braucht eine gewisse Willensstärke sich auf diese Bücher einzulassen. Eine so emotionsgeladene Geschichte beenden und den Inhalt schnell vergessen, kann ich nicht. So funktioniert das bei mir nicht. Diese Bücher begleiten mich gedanklich und emotional für eine ganze Weile. So wie jetzt “Salz für die See”.
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Ruta: Wow…verstehe.
Sandy: Nachdem ich “Salz für die See” begonnen hatte zu lesen, hatte ich sogar Gesprächsbedarf bei meinem Vater. Er war auch ganz neugierig, als er das Buchcover sah. Also, erzählte ich ihm, dass es ein historisches Jugendbuch über die Wilhelm Gustloff sei. Seine Reaktion war etwas zurückhaltend und er wurde etwas still…
Ruta: Wirklich? Wieso denn?
Sandy: Der Großvater meines Vaters war bei der Marine. Er hat meinem Vater später manches erzählt, aber sehr viel im Dunklen gelassen, weil es ihn persönlich sehr mitgenommen hatte. Mein Vater wusste nur bedingt über die Wilhelm Gustloff Bescheid. Er sagt, Menschen stellten später Vermutungen an, weil es fast wie ein Mythos erschien, was mit dem Schiff und den Passagieren geschehen ist. All das war mir nicht bekannt. Menschen, die sich mit der Geschichte nicht so intensiv beschäftigen wie du, können sich das Ausmaß der Tragödie nur sehr schwer vorstellen. Mein Vater wollte dass ich mir einen Eindruck verschaffe, bevor wir darüber reden…
Ruta: Das ist genau die Wunschvorstellung, die ich für meine jungen Leser habe. Ich möchte, dass sich die junge Generation mit ihrer Familie/Großeltern austauscht, den Dialog sucht. Das finde ich faszinierend und wichtig. Hast du nochmal mit deinem Vater darüber gesprochen, nachdem du das Buch beendet hattest?
Sandy: Ja, ein wenig. Das Buch ist sehr Figuren bezogen, was mich sehr aufgewühlt hat. Man bekommt so viele Gefühle, Gedanken und die Hoffnungen der Charaktere transportiert. Mein Vater hat das natürlich sehr interessiert. Ich stellte auch ein paar Aspekte der tatsächlichen Geschehnisse in Frage. Mein Vater hat mir aber bestätigt, dass die Fakten stimmen und ich es nicht in Frage stellen soll. Schließlich wurde vieles von Überlebenden oder deren Angehörigen geschildert.
Ruta: Auch ich stellte während meiner Recherche zunächst ein paar Dinge in Frage. Es sind die Menschen, die überleben oder deren Verwandte, welche die Geschichte am Leben erhalten indem sie diese weitertragen.
Ich traf Kinder von Überlebenden. Die junge Krankenschwester Joanna aus Litauen zum Beispiel, lebte wirklich. Sie ähnelt ihr aber nur minimal. Die Tochter dieser Krankenschwester erzählte mir von ihrer Mutter. Sie sagte, dass ihre Mutter nie darüber sprach was geschah, weil diese der Meinung war, die Menschen würden ihr nicht glauben. Wieso sollte jemand der von dem Untergang der Titanic hörte, von so einer derart gewaltigen Katastrophe nichts gehört haben?!
Aber wenn die Menschen nicht darüber reden, ist es irgendwann tatsächlich einfacher zu sagen, es sei nie geschehen. Die Taucher die nach der Wilhelm Gustloff tauchten und mit denen ich mich länger unterhielt, nennen es das Geisterschiff. Es hat den Hafen mit 10,000 Seelen an Bord verlassen, aber kam nie irgendwo an.
Eine Frau schilderte mir in einer Email, dass sie als kleines Mädchen am Tag nach dem Untergang der Gustloff auf einem anderen Schiff an der Stelle wo die Gustloff gesunken war, vorbei fuhr. Sie schilderte mir, dass die Crew auf einmal sehr emotional wurde. Sie war noch sehr jung, aber spürte dass etwas Schreckliches geschehen sein muss. Sie wird nie die Trauer an Board vergessen und wie erwachsene Männer um all die verlorenen Leben weinten. Es sind diese Art von Erzählungen, welche die Tragödie real werden lassen.
Sandy: Das Erste, was mir beim lesen des Klappentextes durch den Kopf schoss, war die Frage wieso ich zuvor noch nie von der Wilhelm Gustloff gehört habe. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass diese Angriffe jemals im Geschichtsunterricht angeschnitten wurden. Es ist doch unglaublich, wenn man bedenkt, dass allein im Jahr 1945 über 20,000 Menschen auf der Ostsee starben.
Ruta: Aus einer anderen Quelle bezog ich die Information, dass die Menschen natürlich Angst hatten zu reden. Aber auch, dass Deutschland nach dem Krieg der Meinung war, dass es unangebracht sei sich als Opfer zu positionieren. Außerdem wurde der russische Kommandeur, der für den Untergang der Gustloff [und einem anderen Schiff] verantwortlich war, nach seiner Rückkehr in Russland unehrenhaft entlassen und in ein sybirisches Gefängnis gesteckt. Die Russen wollten somit auch nicht darüber reden.
Und natürlich darf man nicht die wenigen Überlebenden vergessen. Diese Menschen mögen überlebt haben, aber sie hatten nichts mehr. Sie standen vor dem Nichts. Sie hatten kein Zuhause, in das sie zurückkehren konnten. Ihre Familien waren fort. Das Letzte woran sie also dachten, war sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Niemand wollte darüber reden, sie wollten vergessen.
Eine Frau schilderte mir, dass es sie zehn lange Jahre kostete, bis sie sich wieder einigermaßen im Griff und ein neues Leben begonnen hatte. Sie wollte nicht mit dem Schmerz in Verbindung gebracht werden. Das ist auch nur verständlich.
Sandy: Während ich beim Lesen von “Salz für die See” immer wieder ein paar Tränen runterschlucken musste, brachen mir ausgerechnet bei deinem Nachwort sämtliche Dämme. Du hast dieses mit so viel Leidenschaft und Nachdruck umschrieben. Und natürlich stelle ich mir die Frage, wie es dir selbst bei der Recherche erging. Du bist eine Frau deren Familie litauische Wurzeln hat und Überlebende des Krieges sind. Wie hast du all diese Informationen aufgenommen?
Ruta: Es macht mich zutiefst traurig, aber aus einem anderen Grund als man meinen mag. Manchmal kommt der Schmerz von anderswo, wie zum Beispiel aus Scham. Die Scham vor der eigenen Ignoranz. Ich lese all diese Geschichten/Berichte, aber es ist als ob die Familie meines Vaters für meine Freiheit bezahlen musste. Ich habe nie erfahren, wie es ist Hunger zu haben. Nicht den Hunger, den wir kennen sondern der richtige Hunger nach Leben. Es wäre also nicht ehrlich von mir zu behaupten, dass ich den Schmerz kenne.
Und die Reaktion die du beschreibst, ist genau die, die ich mir bei meinen Lesern erhoffe. Dann denke ich, dass die Geschichte real wird und sehr präsent. Does that make sense?
Sandy: Ja, absolut. Während des Lesens und auch daran, habe ich mir viele Gedanke gemacht. Es ist wichtig im Moment zu leben, aber es ist auch wichtig unsere Geschichte nicht zu vergessen. Zu erfragen, woher wir kommen und was andere Menschen für unser heutiges Leben erleiden mussten. Das tun wir nicht wirklich. Wir setzen uns nicht genug mit all dem auseinander und wundern bzw. schämen uns dann über unsere Unwissenheit.
Ruta: Und genauso fühlte ich mich, während ich das Buch schrieb.
Der zweite Teil des spannenden Interviews mit Ruta Sepetys + ein tolles Gewinnspiel folgen hier in Kürze.
Also dranbleiben!
Eure
Sandy
Die Autorin…
Ruta Sepetys wurde in Michigan geboren und hat litauische Vorfahren. Ihren Wurzeln ging sie in ihrem ersten Buch, „Und in mir der unbesiegbare Sommer“, nach. Für ihren zweiten Roman, „Ein Glück für immer“, hat sie ihre Lust an historischer Recherche mit dem Interesse an New Orleans und seinem schillernden French Quarter verbunden. In ihrem neuen Roman „Salz für die See“ geht sie zurück in die letzten Tage des 2. Weltkriegs und schreibt bewegend um die Katastrophe der Wilhelm Gustloff.
Bücher von Ruta Sepetys…
- Und in mir der unbesiegbare Sommer
- Ein Glück für immer
- Salz für die See