Der erste Auftritt von Hannover 96 im Europapokal seit 19 Jahren erinnerte etwas an die letzte Vorstellung von Dynamo Dresden im Uefa-Cup vor zwei Dekaden. Steine, Bengalos und Molotow-Cocktails flogen umher. Die Bereitsschaftspolizei versuchte mit Wasserwerfern und Tränengas die Gegner im Schach zu halten.So sah das jedenfalls während und nach dem 96-Spiel in Concepción aus. Mit 96 hatte das natürlich weniger zu tun, selbst wenn die Beteiligten Spanisch sprachen. Die einzige Gemeinsamkeit dürfte vielleicht sein, dass Hannovers Fußballstil und Concepcións Art zu randalieren momentan wirklich internationale Klasse haben.
Ausschreitungen sind ein völlig normales Spektakel an chilenischen Donnerstagen. Seit Monaten protestieren die Studenten gegen das Bildungssystem und haben die Universitäten sowie Schulen besetzt. Donnerstags demonstrieren sie regelmäßig auf der Straße, was stets in Tumulten endet. Das Zentrum des Radaus ist meine Nachbarschaft. Als Anwohner habe ich mich damit arrangiert. An solchen Tagen müssen Besorgungen eben früher erledigt werden und Zitronen im Haus sein. Das saure Obst hilft gegen das Tränengas, mit welchem die Polizei mein Viertel einnebelt.
An diesem Donnerstag sollten mich die Straßenschlachten nicht weiter interessieren. Ich hatte nicht vor zur besten Steinewerfzeit meine Wohnung zu verlassen, denn zeitgleich lieferte 96 den Beweis europapokaltauglich zu sein. Ich lies also trotz des frühlingshaften Wetters die Fenster zu, um mir nicht durch das Tränengas die Sicht auf ein grandioses Spiel trüben zu lassen.
Was da über den Computermonitor flimmerte, war erstaunlich. Die Stimmung aus dem Niedersachsenstadion von Beginn an schwappte in mein Arbeitszimmer über. Die Roten stürmten los, trafen und meine Torjubel dürften die Bambule vor der Haustür für ein paar Momente unterbrochen haben. Hannover kickte also nicht nur international, sondern auch hervorragend. In der ersten Halbzeit war 96 den Gästen deutlich überlegen und es war schade, dass ich auf das Spektakel vor Ort verzichten musste. Eintrittskarten hatte ich, nur leider keinen Urlaub. Ich bin weit genug von dem Geschehen entfernt, um solche Versäumnisse zu verkraften. Ein Blick auf die Weltkarte genügt, allerdings spielte das wie beim Kampf um den Klassenerhalt in der Saison 2009/10 keine Rolle. Hannover ist in solchen Momenten in Concepcion spürbar.
Mit 2:1 wurde also Sevilla nach Hause geschickt. Die Partie war grandios, das Ergebnis jedoch lässt keine Planungen zu. Die Gruppenphase der Europa League ist noch lange nicht erreicht. Die Spanier werden in ihrem Heimspiel besser aufpassen und 96 nicht so einfach durch ihre Reihen tanzen lassen. Doch die Roten dürfen optimistisch sein. Sie haben gezeigt, dass sie eine richtig gute Mannschaft haben. Diese kann in Sevilla gewinnen.
Bis zum Rückspiel müssen die 96-Fans eine endlos lange Woche abwarten. Ich habe mir daher nach dem Abpfiff zum Zeitvertreib die Ausschreitungen vor der Haustür angeschaut. Neue Erkenntniss gab es nicht. Es brannten Barrikaden, flogen Steine und roch nach Tränengas. Das übliche Schauspiel an einem Donnerstag in Concepción. An mir rauschte das alles vorbei. Ich war mit den Gedanken ganz woanders.