Verfassungen läßt man sich am besten nach gigantischen Leiden schreiben. Nachdem ein großer Teil der Bevölkerung und ihrer Delegierten am eigenen Leib erlebt haben, wie es ist, existenzielle Sorgen zu erleiden, am Rande des Todes, mitten in Hunger und Schutt zu vegetieren. Das traf für die Väter der Weimarer Verfassung teilweise, für die Eltern des Grundgesetzes gänzlich zu. Nur in solchen Phasen beatmet man eine Konstitution mit humanistischem Geist - zu wissen, wie es ist Mangel zu leiden, ist die Grundvoraussetzung dafür, eine Verfassung mit sozialen Komponenten zu bestücken.
Aus diesem Grunde ist die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, wie man das derzeit liest, nicht wünschenswert - zwar ist der Neoliberalismus Krise und Leiden für viele Menschen, aber als Grundgefühl für eine neuen Verfassung taugt der sicher nicht.
Für eine neue Verfassung geht es den potenziellen Verfassungseltern viel zu gut
Immer mehr Menschen kommen dieser Tage zwar in Bedrängnis, leiden Mangel, erleben eine schlechtere Gesundheitsvorsorge, werden ihrer Zukunftsaussichten beraubt, erfahren was es bedeutet, nicht zu wissen, was man am nächsten Tag isst. Doch ausreichend ist diese Notlage vermutlich nicht, um es als Massenerfahrung eines ganzen Volkes, einer Bevölkerung zu deklarieren. Ohnehin geht es dem gesellschaftlichen Teil, der zur Ausarbeitung einer Verfassung herangezogen würde, immer besser. Woher sollte er die Sensibilisierung dazu erworben haben, ein Rechtsdokument zu entwerfen, welches die Belange aller Gesellschaftsgruppen erfasst und somit alle Interessen befriedigt? Welches Interesse könnte der Reichtum daran haben, einen Sozialstaat verfassungsmäßig zu garantieren? Wegen dem sozialen Frieden etwa? Um den herzustellen, scheint es, braucht es keine Umverteilung mehr, sondern nur dumpfe Medienunterhaltung - vielleicht baut man ja das Recht auf Zerstreuung auch als Artikel ein.
Nach einem Krieg stehen wir ja nicht, so wie das schon zweimal der Fall gewesen ist. Düster eigentlich, wenn es eine Gesellschaft nur in Zeiten absoluten Niedergangs vermag, Normen zu verabschieden, die integrativ wirken, die Teilhabe und Umverteilung sichern sollen. Rechtsnormen aber, die Reichtum in die Pflicht nehmen und Armut integrieren, sind nicht in Zeiten Kassenschlager, da sich derselbe Reichtum immer reicher macht - auf Kosten der Armut.
Wer soll uns denn welche Werte vorverfassen?
Die Weimarer Verfassungsväter und die Eltern des Grundgesetzes konnten auf Werte zurückgreifen, die in der unmittelbar vorherigen Zeit mit Füßen getreten wurden. Die Abwesenheit von Idealen machten diese Ideale ja gerade so augenfällig. Man konnte daher in der Verfassung festhalten, dass bestimmte Ideale unbedingt notwendig seien, gerade weil sie ja abwesend waren. Sollte sich dergleichen nie mehr wiederholen, so müsse die Verfassung nicht nur Ordnung sein, sondern auch Verhaltens- und Sittenkodex einer Gesellschaft. Gerade dem Grundgesetz ist das - mit Abstrichen und bei aller Kritik - blendend gelungen. Auf was sollten wir heute denn bitte Rückgriff nehmen, wo uns doch täglich vorgemacht wird, dass Werte sich nicht mehr lohnen. Eine Zeit, die fremde Kulturen und gesellschaftlich Ausgeschlossene wie Bodensatz behandelt, kann keine universellen und zeitlosen Ideale mit humanitärer Grundlage zum Verfassungsauftrag machen - da spielt schon die neoliberale Elite nicht mit.
Es ist nämlich nicht so, dass wir keine Werte mehr hätten - das wäre vielleicht einfacher, dann könnte man sagen, dass es an diesen mangele und wir denen zukünftig Verfassungsrang einräumen sollten, wenn wir eine bessere Gesellschaft werden wollen; es ist eher so, dass wir eine Umwertung aller Werte erleben - und wenn man schon mal eine Verfassung schreibt, warum nicht gleich einbauen, warum nicht übernehmen, was zu einem Lebensgefühl wurde?
Profitismus und Marktkonformität wären vielleicht so umgewertete Werte, die Einzug fänden. Und wer solcherlei Werte einbaute, dürfte klar sein: Denkfabriken und Arbeitgeberverbände, die sich in den Konvent drängten, die die Parteien schmieren und unterwandern würden. Und welche Partei hätte sich in den letzten Jahren als so sehr humanistisch, so sehr sozial hervorgetan, als dass man hoffen könnte, sie würden einer neuen Verfassung den Sozialstaat aufzwingen? Die Hartz IV-Eltern etwa als soziale Verfassungsschmiede? Da wird einen ja ganz flau im Magen! Entschlösse man sich heute, bei diesen Eliten, bei diesem Zeitgeist für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, dann wäre der Sozialstaatsgedanke wohl perdu.
Ganz oder gar nicht
Wenn der Populismus rund um eine mögliche verfassungsgebende Versammlung jetzt kundtut, er würde den neuen Text gerne dem Volk vorlegen, dann klingt das stark demokratisch. Dabei bleibt allerdings nur die Möglichkeit, entweder Ja oder Nein zu sagen - über einzelne kritische Punkte kann jedoch nicht befunden werden. Das Volk hat die Wahl, eigentlich so gut wie keine Auswahl zu haben. Ein gestalterischer Volksentscheid, in dem über einzelne Passagen befunden werden könnte, wird kaum geplant sein. Der wäre organisatorisch kaum zu bewältigen und auch viel zu teuer. Nicht wegen dem Papier und dem Druck und dem Versenden und Organisieren und Auszählen - er käme teuer, weil unter Umständen doch Aspekte in die Verfassung einflössen, die im Rohentwurf nicht vorgesehen waren, die die neoliberalen Verfassungskonstrukteure absichtlich weggelassen haben würden.
Überhaupt: Sollten nicht auch Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die aber schon lange hier leben, darüber befinden dürfen, welche Verfassung das Land haben soll, in dem sie schon lange leben und weiterhin leben werden?
Und wer sollte eigentlich kritische Stellen im Verfassungstext dem Volke nahebringen? Wer sollte aufklären, was diverse Verfassungsartikel bedeuten, welche Folgen sie hätten, wie sich das Leben im Geltungsbereich dieser Verfassung veränderte? Etwa RTL? Oder die BILD-Zeitung? Vielleicht Publizisten, die "Im Zweifel links" als Motto nennen, um ihr New Labour-Linkischsein auszutoben? Erklärt uns dann die INSM oder der Bund der Steuerzahler, was die dem Volk angebotene Verfassung bedeutet? Alle anderen, was werden die dann sein? Nörgler und Schwarzmaler etwa?
Das Grundgesetz ist als staatlicher Fürsorgeauftrag deutbar
Wir brauchen keine neue Verfassung - das Grundgesetz reicht aus. Wir müssen nur darauf achten, dass es als das gelesen wird, was es ist. Als ein Leitfaden für eine bessere Gesellschaft, als ein Wegweiser des Nie wieder!-Gedankens nach dem Krieg. Der Sozialstaat ist darin nicht fixiert, weil es ein Gnadenakt der Eltern des Grundgesetzes war, sondern weil man erkannte, dass allgemeiner Frieden nur durch Teilhabe, nur durch Umverteilung und Inpflichtnahme des Reichtums hergestellt werden kann. Aber genau diese Gefahr, dass der Neoliberalismus in Deutschland eine Schrift beachten muß, die man auch als staatlichen Fürsorgeauftrag deuten kann, ist es doch, die eine neue Verfassung für jene so verlockend macht. Die soll dann eindeutiger sein, bestimmte Aspekte gleich ganz weglassen, damit die Schrift nur auf neoliberale Art lesbar ist...
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Aus diesem Grunde ist die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, wie man das derzeit liest, nicht wünschenswert - zwar ist der Neoliberalismus Krise und Leiden für viele Menschen, aber als Grundgefühl für eine neuen Verfassung taugt der sicher nicht.
Für eine neue Verfassung geht es den potenziellen Verfassungseltern viel zu gut
Immer mehr Menschen kommen dieser Tage zwar in Bedrängnis, leiden Mangel, erleben eine schlechtere Gesundheitsvorsorge, werden ihrer Zukunftsaussichten beraubt, erfahren was es bedeutet, nicht zu wissen, was man am nächsten Tag isst. Doch ausreichend ist diese Notlage vermutlich nicht, um es als Massenerfahrung eines ganzen Volkes, einer Bevölkerung zu deklarieren. Ohnehin geht es dem gesellschaftlichen Teil, der zur Ausarbeitung einer Verfassung herangezogen würde, immer besser. Woher sollte er die Sensibilisierung dazu erworben haben, ein Rechtsdokument zu entwerfen, welches die Belange aller Gesellschaftsgruppen erfasst und somit alle Interessen befriedigt? Welches Interesse könnte der Reichtum daran haben, einen Sozialstaat verfassungsmäßig zu garantieren? Wegen dem sozialen Frieden etwa? Um den herzustellen, scheint es, braucht es keine Umverteilung mehr, sondern nur dumpfe Medienunterhaltung - vielleicht baut man ja das Recht auf Zerstreuung auch als Artikel ein.
Nach einem Krieg stehen wir ja nicht, so wie das schon zweimal der Fall gewesen ist. Düster eigentlich, wenn es eine Gesellschaft nur in Zeiten absoluten Niedergangs vermag, Normen zu verabschieden, die integrativ wirken, die Teilhabe und Umverteilung sichern sollen. Rechtsnormen aber, die Reichtum in die Pflicht nehmen und Armut integrieren, sind nicht in Zeiten Kassenschlager, da sich derselbe Reichtum immer reicher macht - auf Kosten der Armut.
Wer soll uns denn welche Werte vorverfassen?
Die Weimarer Verfassungsväter und die Eltern des Grundgesetzes konnten auf Werte zurückgreifen, die in der unmittelbar vorherigen Zeit mit Füßen getreten wurden. Die Abwesenheit von Idealen machten diese Ideale ja gerade so augenfällig. Man konnte daher in der Verfassung festhalten, dass bestimmte Ideale unbedingt notwendig seien, gerade weil sie ja abwesend waren. Sollte sich dergleichen nie mehr wiederholen, so müsse die Verfassung nicht nur Ordnung sein, sondern auch Verhaltens- und Sittenkodex einer Gesellschaft. Gerade dem Grundgesetz ist das - mit Abstrichen und bei aller Kritik - blendend gelungen. Auf was sollten wir heute denn bitte Rückgriff nehmen, wo uns doch täglich vorgemacht wird, dass Werte sich nicht mehr lohnen. Eine Zeit, die fremde Kulturen und gesellschaftlich Ausgeschlossene wie Bodensatz behandelt, kann keine universellen und zeitlosen Ideale mit humanitärer Grundlage zum Verfassungsauftrag machen - da spielt schon die neoliberale Elite nicht mit.
Es ist nämlich nicht so, dass wir keine Werte mehr hätten - das wäre vielleicht einfacher, dann könnte man sagen, dass es an diesen mangele und wir denen zukünftig Verfassungsrang einräumen sollten, wenn wir eine bessere Gesellschaft werden wollen; es ist eher so, dass wir eine Umwertung aller Werte erleben - und wenn man schon mal eine Verfassung schreibt, warum nicht gleich einbauen, warum nicht übernehmen, was zu einem Lebensgefühl wurde?
Profitismus und Marktkonformität wären vielleicht so umgewertete Werte, die Einzug fänden. Und wer solcherlei Werte einbaute, dürfte klar sein: Denkfabriken und Arbeitgeberverbände, die sich in den Konvent drängten, die die Parteien schmieren und unterwandern würden. Und welche Partei hätte sich in den letzten Jahren als so sehr humanistisch, so sehr sozial hervorgetan, als dass man hoffen könnte, sie würden einer neuen Verfassung den Sozialstaat aufzwingen? Die Hartz IV-Eltern etwa als soziale Verfassungsschmiede? Da wird einen ja ganz flau im Magen! Entschlösse man sich heute, bei diesen Eliten, bei diesem Zeitgeist für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, dann wäre der Sozialstaatsgedanke wohl perdu.
Ganz oder gar nicht
Wenn der Populismus rund um eine mögliche verfassungsgebende Versammlung jetzt kundtut, er würde den neuen Text gerne dem Volk vorlegen, dann klingt das stark demokratisch. Dabei bleibt allerdings nur die Möglichkeit, entweder Ja oder Nein zu sagen - über einzelne kritische Punkte kann jedoch nicht befunden werden. Das Volk hat die Wahl, eigentlich so gut wie keine Auswahl zu haben. Ein gestalterischer Volksentscheid, in dem über einzelne Passagen befunden werden könnte, wird kaum geplant sein. Der wäre organisatorisch kaum zu bewältigen und auch viel zu teuer. Nicht wegen dem Papier und dem Druck und dem Versenden und Organisieren und Auszählen - er käme teuer, weil unter Umständen doch Aspekte in die Verfassung einflössen, die im Rohentwurf nicht vorgesehen waren, die die neoliberalen Verfassungskonstrukteure absichtlich weggelassen haben würden.
Überhaupt: Sollten nicht auch Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die aber schon lange hier leben, darüber befinden dürfen, welche Verfassung das Land haben soll, in dem sie schon lange leben und weiterhin leben werden?
Und wer sollte eigentlich kritische Stellen im Verfassungstext dem Volke nahebringen? Wer sollte aufklären, was diverse Verfassungsartikel bedeuten, welche Folgen sie hätten, wie sich das Leben im Geltungsbereich dieser Verfassung veränderte? Etwa RTL? Oder die BILD-Zeitung? Vielleicht Publizisten, die "Im Zweifel links" als Motto nennen, um ihr New Labour-Linkischsein auszutoben? Erklärt uns dann die INSM oder der Bund der Steuerzahler, was die dem Volk angebotene Verfassung bedeutet? Alle anderen, was werden die dann sein? Nörgler und Schwarzmaler etwa?
Das Grundgesetz ist als staatlicher Fürsorgeauftrag deutbar
Wir brauchen keine neue Verfassung - das Grundgesetz reicht aus. Wir müssen nur darauf achten, dass es als das gelesen wird, was es ist. Als ein Leitfaden für eine bessere Gesellschaft, als ein Wegweiser des Nie wieder!-Gedankens nach dem Krieg. Der Sozialstaat ist darin nicht fixiert, weil es ein Gnadenakt der Eltern des Grundgesetzes war, sondern weil man erkannte, dass allgemeiner Frieden nur durch Teilhabe, nur durch Umverteilung und Inpflichtnahme des Reichtums hergestellt werden kann. Aber genau diese Gefahr, dass der Neoliberalismus in Deutschland eine Schrift beachten muß, die man auch als staatlichen Fürsorgeauftrag deuten kann, ist es doch, die eine neue Verfassung für jene so verlockend macht. Die soll dann eindeutiger sein, bestimmte Aspekte gleich ganz weglassen, damit die Schrift nur auf neoliberale Art lesbar ist...
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