von Simon Argus
Ich habe einen neuen Job. Ein Teil dieses Jobs ist das Erstellen von Auswirkungsanalysen. Das heißt wir erfassen und prognostizieren was passiert, wenn ein Investor ein neues Schwimmbad, einen Kindergarten - oder, was häufiger der Fall ist - ein Einkaufszentrum in die Landschaft stellt. Das Schöne an der Arbeit ist, dass eine solche Analyse am Anfang zunächst eine gründliche Erhebung erfordert, bei der man als Geograph die wunderbare Gelegenheit hat, das betreffende Gebiet in geradezu intimer Detailschärfe kennen zu lernen.
In einem Mietwagen, mit einem extra für diesen Job engagierten Kollegen, wird es nun einige Tage über die Dörfer gehen. Wir halten an jedem Laden und jedem Supermarkt, schätzen oder berechnen seine Verkaufsfläche, Leistungsfähigkeit und erfassen das Sortiment. Ausgenommen sind laut Unternehmensleitlinie Erotik-Läden - offenbar ist das den Kollegen nicht zuzumuten.
Wir fahren jede einzelne Straße der Orte ab. In Falkensee, Nauen und Oranienburg sind auch eine ganze Menge Sandpisten darunter. Nauen liegt etwas weiter draußen als die anderen Orte auf unserer Liste und macht einen sehr verschlafenen Eindruck. Die Stadt schrumpft. Vom Boom des Berliner Umlands ist hier nichts zu spüren. Das spiegelt sich auch in der Situation des Einzelhandels wieder - zahlreiche Geschäfte, die ein anderes Team sieben Jahre zuvor erhoben hatte existieren nicht mehr. Aber es gibt auch einige Highlights: Den "Technik-Tunnel" etwa, wo angegilbte Spielkonsolen im Schaufenster neben Neonleuchtketten und Disko-Equipment verstauben. Oder den Trödler im Hinterhof, der seinen Laden auf anraten eines Beamten des Ordnungsamts "zugemacht" hat, um keinen Ärger wegen seines unzureichenden Brandschutzes zu bekommen. "Ich bin halt meistens zufällig eh hier - und wenn euch was gefällt könnt ihr es kaufen - so von privat zu privat."
Manche der kleinen umliegenden Orte haben Westernfilm-Charme. Breite Staubpisten bilden die Hauptstraße, an denen entlang einstöckige Stein- und Holzgebäude stehen. Angerdörfer, Straßendörfer, Neusiedelland sind die passenden Begriffe aus dem Geographie-Grundstudium. Mit etwas Glück gibt es in der Ortsmitte einen Kiosk oder Tabakladen, der auch ein paar Lebensmittel für die größte Not parat hält. Lange Alleen führen durch eine wunderschöne und scheinbar fast menschenleere Gegend.
Wohngebiete direkt entlang der Zonengrenze in Hennigsdorf oder Falkensee bieten einen anderen Reiz. Beim Vorbeifahren stellen wir uns vor, dass die ganz besonders spießigen Gärtchen der 60er-Jahre Häuschen hier vor zwei Dekaden mit ziemlicher Sicherheit von stramm-regimetreuen Stasileuten bewohnt waren - zur Grenzsicherung und zur Fluchtverhinderung. Sind das die gleichen Leute die hier heute noch ihre Autos waschen?
Falkensee wächst. Es ist eine der größten Umlandgemeinden im Berliner Westen und derzeit wird debattiert ob die S-Bahn hier hinaus verlängert wird. Viele kleine Eigenheime, günstiges Bauland und Angelläden - offenbar die große Leidenschaft der Brandenburger - gibt es hier. In Falkensee liegt Berlins Suburbia: Die Schlafstadt ist allerdings nicht ganz so makellos wie in den amerikanischen Vorstädten - vor den Jägerzäunen und akkuraten Hecken sind viele Straßen grob gepflastert oder unbefestigt und die Bauvorschriften enthalten offenbar keine näheren Angaben zur ästhetischen Gestaltung der Häuser. Dafür kann man sich hier auch noch mit einem eher kleinen Geldbeutel den Traum vom Eigenheim erfüllen. Zum Einkaufen muss man dann aber mit dem 4x4 Auto eine Viertelstunde ins nächste Nahversorgungszentrum fahren, wo wir schon dabei sind anhand der Zahl der Deckenplatten die Verkaufsfläche zu berechnen.
In Oranienburg leben die Bewohner mit der Geschichte - der ganz düsteren. Das KZ Sachsenhausen liegt im Ort, zahlreiche denkbar unpassend gekleidete Touristen begegnen einem und fragen nach dem Weg. Die alten Wohnhäuser der SS-Wachmannschaften sind heute normale Wohngebiete. Polizeistreifen sind hier sehr präsent. Oranienburg ist auch radioaktiv besonders stark belastet, wie uns Wikipedia erklärt. Der Umstand, dass die Stadt wichtiger Standort der Rüstungsindustrie war, erklärt auch warum hier noch immer besonders viele Blindgänger im Boden liegen.
Aber das ist nur die Geschichte - unser Job ist der Kommerz: Küchenhäuser, Kik-Textildiscounter und zwei unterschiedliche Supermarktketten, die beide Netto heißen. Bei Möbel-Boss bin ich mir plötzlich nicht mehr sicher, ob es sich bei "Cindy aus Marzahn" tatsächlich um eine überzeichnete Kunstfigur handelt: Sämtliche Kunden - tatsächlich ohne Ausnahme - sehen ihr hier verdammt ähnlich. Fast alle Blumenläden in der Gegend sind in asiatischer Hand - und in fast keinem haben wir je einen Kunden angetroffen. Überhaupt: Asialäden. Ich dachte ja immer, da kauft man Lebensmittel für den Wok ein. Tatsächlich gibt es hier vor allem furchtbare Anziehsachen und allerlei, das in China wahrscheinlich keine Kunden mehr findet. Sie sind dunkel, vollgepackt bis unters Dach und die einzige Verkäuferin im Laden zeigt wenig Interesse an der Kundschaft. Außer Geldwäsche fällt uns kaum ein Grund für ihre Existenz in dieser Gegend ein.
Nach zwei Wochen Supermärkten und Einkaufszentren, Stasi-Liegenschaften und Fußgängerzonen können wir mit Fug und Recht behaupten, jede Straße dieser Orte zu kennen. Aus dem Material , das sich in dicken Ordnern auf dem Rücksitz unseres inzwischen etwas eingedreckten Mietwagens sammelt, werden Kaufkraftverschiebungen und Einzugsgebiete errechnet - aber dazu ein andermal mehr. Ob man als Geograph das richtige studiert hat, erkennt man auch daran, ob einem auf einer solchen Tour schnell langweilig wird, oder ob man auch noch im letzten Ort auf der langen Erhebungsliste nach der Genese der örtlichen Stadtentwicklung fragt und Wildfremde in ihren Vorgärten anspricht, um mit ihnen über die Veränderungen in ihrem Viertel zu palavern.
Ich habe einen neuen Job. Ein Teil dieses Jobs ist das Erstellen von Auswirkungsanalysen. Das heißt wir erfassen und prognostizieren was passiert, wenn ein Investor ein neues Schwimmbad, einen Kindergarten - oder, was häufiger der Fall ist - ein Einkaufszentrum in die Landschaft stellt. Das Schöne an der Arbeit ist, dass eine solche Analyse am Anfang zunächst eine gründliche Erhebung erfordert, bei der man als Geograph die wunderbare Gelegenheit hat, das betreffende Gebiet in geradezu intimer Detailschärfe kennen zu lernen.
Eine Fußgängerzone in Hennigsdorf - Kleinstadt-Tristesse oder Geographen-Abenteuerspielplatz?
Diesmal geht es in die Gegend westlich von Berlin. Das ist sehr praktisch, weil es von mir aus - als Neu-Berliner - quasi vor der Tür liegt. Gleichzeitig gibt es wenige Neuberliner, die jemals die Stadt verlassen um sich die brandenburgischen Ortschaften in ihrer Umgebung anzusehen. Es ist noch immer eine andere Welt wenn man von Spandau über die alte Zonengrenze nach Falkensee oder Hennigsdorf hinüberfährt.In einem Mietwagen, mit einem extra für diesen Job engagierten Kollegen, wird es nun einige Tage über die Dörfer gehen. Wir halten an jedem Laden und jedem Supermarkt, schätzen oder berechnen seine Verkaufsfläche, Leistungsfähigkeit und erfassen das Sortiment. Ausgenommen sind laut Unternehmensleitlinie Erotik-Läden - offenbar ist das den Kollegen nicht zuzumuten.
Wir fahren jede einzelne Straße der Orte ab. In Falkensee, Nauen und Oranienburg sind auch eine ganze Menge Sandpisten darunter. Nauen liegt etwas weiter draußen als die anderen Orte auf unserer Liste und macht einen sehr verschlafenen Eindruck. Die Stadt schrumpft. Vom Boom des Berliner Umlands ist hier nichts zu spüren. Das spiegelt sich auch in der Situation des Einzelhandels wieder - zahlreiche Geschäfte, die ein anderes Team sieben Jahre zuvor erhoben hatte existieren nicht mehr. Aber es gibt auch einige Highlights: Den "Technik-Tunnel" etwa, wo angegilbte Spielkonsolen im Schaufenster neben Neonleuchtketten und Disko-Equipment verstauben. Oder den Trödler im Hinterhof, der seinen Laden auf anraten eines Beamten des Ordnungsamts "zugemacht" hat, um keinen Ärger wegen seines unzureichenden Brandschutzes zu bekommen. "Ich bin halt meistens zufällig eh hier - und wenn euch was gefällt könnt ihr es kaufen - so von privat zu privat."
Möbelhaus in Nauen - oder so ähnlich...
Manche der kleinen umliegenden Orte haben Westernfilm-Charme. Breite Staubpisten bilden die Hauptstraße, an denen entlang einstöckige Stein- und Holzgebäude stehen. Angerdörfer, Straßendörfer, Neusiedelland sind die passenden Begriffe aus dem Geographie-Grundstudium. Mit etwas Glück gibt es in der Ortsmitte einen Kiosk oder Tabakladen, der auch ein paar Lebensmittel für die größte Not parat hält. Lange Alleen führen durch eine wunderschöne und scheinbar fast menschenleere Gegend.
Wohngebiete direkt entlang der Zonengrenze in Hennigsdorf oder Falkensee bieten einen anderen Reiz. Beim Vorbeifahren stellen wir uns vor, dass die ganz besonders spießigen Gärtchen der 60er-Jahre Häuschen hier vor zwei Dekaden mit ziemlicher Sicherheit von stramm-regimetreuen Stasileuten bewohnt waren - zur Grenzsicherung und zur Fluchtverhinderung. Sind das die gleichen Leute die hier heute noch ihre Autos waschen?
Falkensee wächst. Es ist eine der größten Umlandgemeinden im Berliner Westen und derzeit wird debattiert ob die S-Bahn hier hinaus verlängert wird. Viele kleine Eigenheime, günstiges Bauland und Angelläden - offenbar die große Leidenschaft der Brandenburger - gibt es hier. In Falkensee liegt Berlins Suburbia: Die Schlafstadt ist allerdings nicht ganz so makellos wie in den amerikanischen Vorstädten - vor den Jägerzäunen und akkuraten Hecken sind viele Straßen grob gepflastert oder unbefestigt und die Bauvorschriften enthalten offenbar keine näheren Angaben zur ästhetischen Gestaltung der Häuser. Dafür kann man sich hier auch noch mit einem eher kleinen Geldbeutel den Traum vom Eigenheim erfüllen. Zum Einkaufen muss man dann aber mit dem 4x4 Auto eine Viertelstunde ins nächste Nahversorgungszentrum fahren, wo wir schon dabei sind anhand der Zahl der Deckenplatten die Verkaufsfläche zu berechnen.
Der Einzelhandel boomt - nur nicht überall. Einkaufszentrum im Berliner Umland.
In Oranienburg leben die Bewohner mit der Geschichte - der ganz düsteren. Das KZ Sachsenhausen liegt im Ort, zahlreiche denkbar unpassend gekleidete Touristen begegnen einem und fragen nach dem Weg. Die alten Wohnhäuser der SS-Wachmannschaften sind heute normale Wohngebiete. Polizeistreifen sind hier sehr präsent. Oranienburg ist auch radioaktiv besonders stark belastet, wie uns Wikipedia erklärt. Der Umstand, dass die Stadt wichtiger Standort der Rüstungsindustrie war, erklärt auch warum hier noch immer besonders viele Blindgänger im Boden liegen.
Aber das ist nur die Geschichte - unser Job ist der Kommerz: Küchenhäuser, Kik-Textildiscounter und zwei unterschiedliche Supermarktketten, die beide Netto heißen. Bei Möbel-Boss bin ich mir plötzlich nicht mehr sicher, ob es sich bei "Cindy aus Marzahn" tatsächlich um eine überzeichnete Kunstfigur handelt: Sämtliche Kunden - tatsächlich ohne Ausnahme - sehen ihr hier verdammt ähnlich. Fast alle Blumenläden in der Gegend sind in asiatischer Hand - und in fast keinem haben wir je einen Kunden angetroffen. Überhaupt: Asialäden. Ich dachte ja immer, da kauft man Lebensmittel für den Wok ein. Tatsächlich gibt es hier vor allem furchtbare Anziehsachen und allerlei, das in China wahrscheinlich keine Kunden mehr findet. Sie sind dunkel, vollgepackt bis unters Dach und die einzige Verkäuferin im Laden zeigt wenig Interesse an der Kundschaft. Außer Geldwäsche fällt uns kaum ein Grund für ihre Existenz in dieser Gegend ein.
Nach zwei Wochen Supermärkten und Einkaufszentren, Stasi-Liegenschaften und Fußgängerzonen können wir mit Fug und Recht behaupten, jede Straße dieser Orte zu kennen. Aus dem Material , das sich in dicken Ordnern auf dem Rücksitz unseres inzwischen etwas eingedreckten Mietwagens sammelt, werden Kaufkraftverschiebungen und Einzugsgebiete errechnet - aber dazu ein andermal mehr. Ob man als Geograph das richtige studiert hat, erkennt man auch daran, ob einem auf einer solchen Tour schnell langweilig wird, oder ob man auch noch im letzten Ort auf der langen Erhebungsliste nach der Genese der örtlichen Stadtentwicklung fragt und Wildfremde in ihren Vorgärten anspricht, um mit ihnen über die Veränderungen in ihrem Viertel zu palavern.