Meine Oma hat Plattdeutsch gesprochen. So eine Variante aus dem äußersten westlichen Zipfel des Landes.
Immer, wenn sie ein neues Enkelchen präsentiert bekam, nahm sie es in ihre besonders kräftigen Arme, wiegte es hin und her und sagte wehmütig:
“Äwer se bliewe joa net sue.”
“Aber sie bleiben ja nicht so.”
Meine Mutter, ihres Zeichens eine typisch gebeutelte Schwiegertochter dieser Frau, sagte mir als Kommentar dazu: “Am liebsten hätte ich immer gesagt Na und? Das ist ja wohl auch gut so! aber ich hab mich nicht getraut. Ist doch toll, dass Kinder immer mehr können. Mehr sprechen, mehr mitteilen, lesen, schreiben und so weiter. Sollen die etwa immer kleine, weinende Babies sein? ich verstehe nicht, wie man es bedauern kann, dass Kinder groß werden.”
Ich schon. Ne, Oma?
“Se bliewe joa net sue.”
Ganz genau. Oma hatte Recht.
Wenn man zum ersten Mal Mutter wird und auch, wenn dies in einer nicht allzu großen Zeitspanne ein zweites Mal geschieht, dann weiß man nicht, dass man gefangen ist. In einer pastellfarbenen Babyduft-Häkelschühchen-Breilöffelchen-Kindergartentäschchen-Bastelnachmittags-Süßheits-Blase. Aber man ist es.
Alles dreht sich um bestimmte Momente, Bedürfnisse und Pläne. Macht das Baby kein “Bäuerchen”, ist man verunsichert, hat Angst vor den berüchtigten Koliken, die schon so so viele Kinder und Mütter fertigmachten. Kann sich das Kleinkind nicht wehren, wenn andere ihm die Schaufel klauen oder haut es sofort zu feste zurück – dann sorgt man sich auch darum.
Man sorgt sich um die perfekte, lebenserhaltene Schlafumgebung. Man ist immer ganz nah dran, am ganz elementaren Sein. Und vergisst in den ersten knapp 6 Lebensjahren des Sprösslings fast, dass danach ein anderes Leben beginnt. Ein ganz anderes.
Vielleicht gibt es ein Geschwisterkind, das zwei Jahre nach dem ersten geboren wurde. Dann hat man zwei von den berühmten kleinen Mäusen. Und die gehen zusammen in kleine Kindergartengrüppchen, die Kuschelbären oder Reegenbogenponies oder Mausebäckchen heißen. Und an ihren Garderobenplätzchen sind niedliche Motive aufgeklebt. Und es gibt süße kleine Fächer für klitzekleine Gummistiefelchen. Und auf dem Nachhauseweg erzählen sie lauter putzige Sachen. Und man organisiert furchtbar herzerwärmende Geburtstagsfeiern. Das ist alles so … hach!
Eignung, Einstufung, Erprobung
Man hat im Kindergarten gehört, wie schön die Kleinen sich entwickeln. Sie haben gelernt, sich ein bisschen sozialverträglich durchzusetzen, sie können teilen und ihre Tellerchen selber spülen. Man liest ihnen abends Geschichtchen vor und deckt sie zu. Ein paar Jahre lang.
Während man noch den zarten Duft der selbstverständlich bio-dynamischen Babycreme in der Nase hat und sich aus dem Tragetuch schält, geschehen Dinge.
Eines heißt Zahnwechsel, eines heißt Medizinischer Einschulungstest und dann bastelt man eine Schultüte. Oder kauft eine. Und selbst da ist alles noch ist so süß und klein.
Während der nach der Einschulung folgenden vier Jahre wird alles anders.
Nicht nur, dass viele früher aufstehen müssen. Und nicht nur, dass man zu den armen Socken gehört, die die Hauptsaisonpreise zu latzen haben. Nicht nur, dass man ab sofort täglich Zettel aus der Schule erhält, stets noch mehr Kuverts/Kleingeld/Lust auf’s Backen haben soll. Man ist plötzlich gedanklich schon näher daran, sich zu fragen, ob man sein(e) Kind(er) ausreichend auf das Eintreten in die Leistungsgesellschaft vorbereitet hat.
Die vier Jahre steigern sich inhaltlich langsam auf ein ernstzunehmendes Maß. Ab der dritten gibt es Noten. Noten! Leistungsnachweise in Form von Ziffern und Worten. Nicht wenige Kinder lernen in diesem Jahr etwas Neues kennen: Nachhilfeunterricht. Aufregung vor Klassenarbeiten. Und einige erleben die Angst vor dem Zeugnis.
Der Ernst des Lebens
Nicht gleich ab der ersten Klasse wird es also so richtig ernst. Man wird schrittweise gewöhnt. In Häppchen wird es ernster. Die vierte Klasse dient dann dazu, die Kinder aufzuteilen. Sie auszusortieren. Damit man sie in die nachfolgenden Schulen einsortieren kann. Und da gibt es dann für einige Eltern und Kinder noch mehr Gedanken, Sorgen, Nachhilfe, Üben.
Plötzlich denkt man daran, dass die Kinder irgendwann eine Ausbildung oder ein Studium machen werden. Wow. Das ist aber nahe dran an Ausziehen-und-ohne-Eltern-wohnen!
Während man dann das Kindergartentäschchen von vor vier Jahren in der Andenkenkiste ansieht und die Strampler, dann hat man das ein oder andere Klößchen im Hals. Wenn man denn zu solchen Halsklößchen neigt. Aber auch ansonsten kann man es kaum fassen.
Schwuppdiewupp
Und *zack* hockt man auf den Stühlen in irgendeiner Aula zur Informationsveranstaltung einer der weiterführenden Schulen. Dann gibt es noch ein Abschlussgrillen in der süßen Grundschule und auf geht es in die Ferien vor dem Schulwechsel. *Zack-zack*! Das Kindergartentäschchen wäre längst unter einer dicken Staubschicht, hätte man es nicht sicher in der Andenkenkiste verstaut.
Dann hat man vielleicht eine Tochter und diese ist plötzlich so groß, dass sie einen rein theoretisch-biologisch zur Oma machen könnte. Oh my God!
Es geht nicht darum, dass die Zeit vorbeirasen würde. Im Rückblick fühlen sich dann solche 12 Jahre auch wirklich wie über ein Jahrzehnt an. Aber man hat die ersten Jahre davon in einer niedlichen Blase verbracht, aus der man dann ohne hörbares Plopp einfach rausfliegt. Es gibt dann weniger Schulzettel, Kleingeld muss man dennoch ständig abdrücken, oder auch mal ein paar Hundert Euro auf einmal für eine/zwei Klassenfahrt/en.
Aber es gibt auch immer weniger von diesem Niedlich. Das muss man verdauen.
Klar, mit den Kindern zu diskutieren, zu philosophieren und zusammen Frisuren ausprobieren oder Latein-Vokabeln zu üben ist wirklich ganz großartig. Aber es ist nicht niedlich.
Ihr Lieben …
… wenn Ihr noch in den sechs bis zehn niedlichen Jahren seid: Genießt es trotz der miesen Nächte, der umgekippten Kakaobecher, der KiTa-Fest-Einladungen, dem Muffin-Backen und des Chaos. Ja, das macht Ihr sicherlich meistens schon. Dann bestätige ich Euch hiermit, dass dies genau richtig ist.
Denn denkt daran (hilft auch im Falle, dass die lieben Kleinen besonders nerven): “Se bliewe joa net sue!”
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