Im Schwebezustand

Von einem Polizeistaat will ich nicht sprechen. Dafür fehlen einige wesentliche Indikatoren. Aber ein flaues Gefühl habe ich durchaus. Denn wenn dieses Land auch kein Polizeistaat ist, so gibt es nicht wenige in dieser Truppe, die ihrem Handwerk voll brutaler Leidenschaft nachgehen.

Im Schwebezustand

Vertrauensvolle Bürgernähe

Spätestens seit Heiligendamm und Stuttgart war mir klar, dass diese Polizei immer stärker die Rolle einer von der öffentlichen Hand bezahlten Privatarmee für Besitzständler übernimmt. Das konnte seither nicht mehr verleugnet werden. Sie trägt ja von Natur aus einen systemkonformen Charakter - aber dass sie so charakterlos ist, Menschen mit anderen Ansichten wie lästige Mücken zu behandeln, konnte ich da erst wirklich glauben. So naiv war ich bis dorthin! Fernab dieses staatspolitischen Aufgabenfeldes, so meinte ich bislang, sei die Menschenverachtung noch nicht so weit gediegen. Tja, dann kam Westerburg und der Vorfall an diesem Brunnen in Berlin und viele "Einzelfälle" mehr.

Zwischendrin ein kurzes Hoch auf das Smartphone und die Möglichkeit, seine Erlebnisse filmisch zu dokumentieren: Man sieht, man kann damit mehr anfangen als sich Bilder seines Abendessens zu knipsen und zu posten. Als die iranische Polizei vor einigen Jahren Unruhen im eigenen Land brutal niederschlug, da lobten westliche Politiker die Möglichkeiten, die Smartphones, Digitalkameras, Facebook und Twitter lieferten. Ich glaube, Twitter wurde in diesem Land erst richtig bekannt durch die iranischen Demonstranten; Was ist dieses Gezwischter eigentlich? fragte und erklärte damals manche Journaille. Man verpasste seinerzeit dem ganzen Techno-Plunder einen revolutionären Anstrich. Und nun, da man bei Facebook einen Clip sehen kann, in dem ein psychisch verwirrter Mann von einem Polizisten erschossen wird, obgleich da ein ganzes Rudel Polizisten herumlief, findet man das gar nicht mehr so bahnbrechend. Jetzt findet man es menschenverachtend, was da bei Facebook und YouTube zu sehen ist.
Das Filmen der Menschenverachtung ist menschenverachtend. Aha! Für mich ist das die Sprache der Verrohung, ein Idiom in einen Staat, der kein Polizeistaat ist, aber Freifahrtscheine für diese immer roher werdende Armee der Reichen gegen die Nutzlosen und Lästigen verteilt. Sei es, wie es sei: Das Smartphone und seine Möglichkeiten hat mich in einem Land erwachen lassen, in dem man sich vor der Polizei wieder fürchten muss. Ich halte es jetzt nicht mehr für unmöglich, in eine Polizeikontrolle zu geraten, in der man plötzlich mit gespreizten Beinen auf der Motorhaube seines Wagens lehnt. Eventuell war man zu flapsig oder genervt und etwas vorlaut und ehe man sich versah ...
Bilde ich es mir ein oder hat sich nicht nur das Bild des Polizisten, sondern auch der Typus, der Polizist wird, geändert? Man darf nichts verherrlichen, die Polizei war nie irgendwelchen Demonstranten freundschaftlich verbunden. Aber im "zivilen Umgang" benahm sie sich weniger arrogant und willkürlich als heute. So nehme ich das jedenfalls wahr.
Ich erinnere mich an einen Vorfall, den ich mir heute so nicht mehr vorstellen könnte. Damals war ich vielleicht Fünfzehn und vor der Haustüre unserer türkischen Nachbarn lag ein Säugling in einem Korb. Bekannte der Familie hatten es warum auch immer dort abgelegt. Ich glaube es war ein Freitagabend und bei unseren Nachbarn öffnete niemand die Türe. Andere Nachbarn kamen dazu und irgendwer rief die Polizei. Schnell waren zwei Polizisten vor Ort, ein jüngerer und ein etwas älterer Mann. Sie versuchten die Nachbarn und deren Bekannte ausfindig zu machen, der ältere Polizist nahm während dieser Fahndung das Kind auf den Arm und schaukelte es, sprach mit ihm und war auch gegenüber der Nachbarschaft sehr angenehm. Ein böses Wort gegen "unsere türkischen Mitbürger, die andere Ansichten wie wir haben, wie Sie sicher wissen" (das war mal ein O-Ton von einem Beamten, mit dem ich Jahre später zu tun hatte) fiel damals noch nicht.
Wenn ich mir die arroganten jungen Männer und Frauen, denen ihr Elitedünkel ins Gesicht geschrieben steht, von heute vorstelle, dann kann ich mir einen solchen menschlichen Einsatz nicht mehr vorstellen. Wann genau überschritten wir die Linie? Wann wurde aus der Polizei im "zivilen Umgang" eine technokratisch unterkühlte Ordnungsinstanz ohne Bezug zu den Bürgern, für die man vorgibt dazusein? Der Polizist damals war cool, weil er ruhig blieb, keine Hektik entfaltete, ein uniformierter Bürger war. Heute gibt es natürlich weiterhin viele coole Polizisten. Ihre Coolness sieht nur anders aus, gleicht der eines Dirty Harry oder anderer Hollywood-Sheriffs mit Sonnenbrille. Den unkomplizierten Polizisten gibt es noch bei München 7 oder im Großstadtrevier; in der Realität wollen sie dagegen keine Polizisten mehr sein, sondern Cops. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum solche deutschen Vorabendserien ganz gut ankommen. Der Mangel an polizeilicher Menschlichkeit läßt die menschliche Serienpolizei erfolgreich sein.
Das alles ist nur ein subjektiver Eindruck, vielleicht auch eine Fehleinschätzung. Möglicherweise aber auch nicht. In einem Polizeistaat könnte ich das hier wahrscheinlich nicht schreiben oder müsste mich nach Erscheinen auf dem Revier einfinden. Ich gehe davon aus, dass es hierzu nicht kommen wird. Wie nennt sich dieser Schwebezustand zwischen Polizei- und Rechtsstaat eigentlich, in dem wir uns zu befinden scheinen? Ist es dem misanthropen Vakuum geschuldet, in dem wir leben? Ist sie das Exekutivorgan eines Zeitgeistes, in dem Menschen als organischer Sachwert angesehen werden?
Ich bin dafür, dass die Ausbildung zum Polizisten weniger körperlichen Einsatz und Eskalation beinhaltet, dafür mehr psychologische Schulung, Lesen von Kant bis Camus und etwas Knigge würde auch nicht schaden. Aber humanistische Bildungsvorgaben sind in dieser Gesellschaft erledigt. Wir züchten uns Fachidioten in allen Branchen an. Und diese moderne Polizei hat eben die mit Gummiknüppel ausgestattete Fachidiotie zur Bewahrung und Stabilisierung des Status quo zu sein. Und sonst nichts.

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