Es klang schon merkwürdig an, als Tage und Wochen vor der Entscheidung der „roten Roben“ nahezu die gesamte Medien- und Fachwelt zu wissen schien, wie am 12. September das Bundesverfassungsgericht in Sachen ESM-Krisenmechanismus urteilen würde. Damit war es eine „absehbare“, eine „vernünftige“ Einschätzung der Richter, die verkündet wurde – und irgendwie nur noch das zu bestätigen schien, was schon lange zuvor niemand mehr in Zweifel zu ziehen wagte: Ein „Ja“ zum ESM war offenbar in Stein gemeißelt, das Verfassungsgericht hat sich durch seine Untertänigkeit den Vorgaben von allen Seiten hingegeben und seine Souveränität letztlich vollkommen abgelegt.
Allein dieser Umstand ist ein Skandal in einem Rechtssystem: Unabhängig soll die Justiz sein, unbeeinflusst und unvoreingenommen. Dass die Richter heute nur noch Marionetten eines Systems sind, das aus Brüssel gelenkt wird und das sich meist allein aus Anmahnen möglicher Horrorszenarien „über Wasser“ halten kann, ist ein Umstand, der die eigentliche Dramatik in der Schuldenkrise fast in den Schatten zu stellen vermag. Nein, die Sorge vor dem Ende der Demokratie wäre falsch. Es muss die Angst vor dem Ende der nationalstaatlichen Demokratie sein – und damit dem Ende der individuellen, der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Eigenständigkeit gerecht werdenden Entscheidungsbefugnis jedes Landes. Die Befürchtung vor Gleichbehandlung eines Kontinents, dessen Gefälle nicht erst seit der Finanzkrise offenkundig zutage treten.
Seit Jahren und Jahrzehnten ist klar: Karlsruhe ist europafreundlich. Während innenpolitisch immer wieder harte Hammerurteile verkündet wurden, mit denen niemand gerechnet hatte und die den Parteien schmerzliche Grenzen in ihrem Handeln auferlegt hatten, konnte man bislang immer mit allzu großer Gewissheit davon ausgehen, dass sich die Verfassungsrichter nicht in den Weg zu noch mehr Europa stellen würden. Nahezu beschämt und nicht mit der sonstigen Standfestigkeit fallen die Entscheidungen aus, wenn das unterwürfig scheinende Karlsruher Gericht seine Bewertung zu der Konformität des deutschen Grundgesetzes mit weiterer Öffnung der Bundesrepublik hin zu einem europäischen Bundesstaat abgibt.
Ein Bundesverfassungsgericht ist nicht dazu da, die Befindlichkeiten von Bankenspekulanten oder Börsenhändlern zu berücksichtigen. Sie hatten gewarnt, würde Karlsruhe dem ESM ein „Nein“ vorschieben, würde das „ungeahnte“ Auswirkungen auf die Finanzwelt haben und das Ende von Euro und ganzer Wirtschaftssysteme stünde bevor. Mit Drohungen und Erpressungen sollte der Spruch der Richter in die „richtige“ Richtung gelenkt werden. Und wenig erstaunlich: Er ist gemäß den Wünschen der Lobbyisten eingetreten. Denn mittlerweile wird zwischen Währungsunion und politischem Bund nicht mehr unterschieden. Alles oder nichts – so lautet die Devise und setzt den Europäern die Pistole auf die Brust.
Nein, das Urteil des Bundesverfassungsgericht war nicht gut. Wenige Eckpfeiler wurden gesetzt, beispielsweise eine vorläufige Obergrenze von 190 Milliarden Euro (die in den Nachrichten heute so verkündet werden, als handele es sich um eine Hand voll Lutschbonbons) in Sachen deutscher Haftung. Doch, so sagte es der erfahrene EU-Korrespondent der ARD, Krause, wer glaubt schon daran, dass der Bundestag im Falle von mehr benötigtem Geld künftig „Nein“ sagen würde? Er hat sich mittlerweile auf eine Spirale eingelassen, aus der Deutschland nicht mehr herauszukommen droht. Zwar hat man provisorisch das Parlament als Kontrollgremium für weitere Zustimmungen zu mehr Beteiligung eingeschaltet – welche Farce ist das aber bei dem Wissen, dass dieses Abgeordnetenhaus künftig an immer mehr Macht verlieren wird? Ein Bundestag, in dem die Mitglieder nicht mehr wissen, worüber sie eigentlich abstimmen – und in welchem sich Finanzminister an eine Budgethoheit klammern, die mittlerweile eigentlich schon faktisch in anderen Händen liegt. Denn nachdem wohl fast vier Fünftel der Gesetze des Hauses als mehr oder weniger direkte Vorlage aus Europäischem Parlament oder Kommission zum bloßen Abnicken in Berlin vorgelegt werden, hat die indirekte Oberhand für den Haushalt schon seit längerem eine informelle Politikerrunde in Brüssel übernommen.
Wesentliche Entscheidungspunkte wurden offenbar in das „Hauptsacheverfahren“ verschoben und ziehen sich damit über einen ewigen Zeitraum hin – vielleicht zu spät. Denn bereits das Eilverfahren hätte Antworten zu elementaren Fragen geben müssen: Wo blieb die Forderung nach einer klaren verfassungsrechtlichen Grundlage, auf der die Richter künftig über Europafragen entscheiden können? Dass das derzeitige Grundgesetz keine rechtskräftigen Antworten mehr auf Streitpunkte liefern kann, die auf einer Ebene spielen, die die Initiatoren der Verfassung vor über 60 Jahren nicht zu ahnen gewusst hätten, ist selbstverständlich. Wo war das Einverlangen von mehr Bürgerbeteiligung? Einer Volksabstimmung? Die Klagen einiger Initiativen waren hier als unzureichend oder an der eigentlichen Problematik vorbeigehend zu beurteilen: Wer allein „mehr Demokratie“ einfordert, wird der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Dimension der ESM-Entscheidung in keinem Fall gerecht. Es geht nicht um einzelne Abstimmungsbefugnisse über den ESM. Er entscheidet schlussendlich auch nicht über die EU, wie medial aufgepustet wurde. Dem deutschen Volk muss die Frage auferlegt werden, in welchem Europa man künftig leben möchte – und welches Verständnis von Solidarität und Finanzierung man sich gemeinsam auferlegt. Nicht mehr, aber eben schon gar nicht weniger. Mit tröpfchenweisen Entscheidungen kommen wir in einer derart die Einbahnstraße schon fortgeschrittenen Position nicht mehr weiter.
Doch weshalb sagten die Richter hierzu nichts? Weshalb fand keiner der Verfassungshüter Anstoß daran, dass künftig eine Zentralbank nicht nur geld-, sondern zunehmend ordnungspolitisch aktiv werden kann – ohne dafür ein Statut zu haben? Nein, das sind keine Themen, die auf die „lange Bank“ gehören. Sie hätten hier und jetzt einer eindeutigen Aussage bedurft. Der ESM hilft den angeschlagenen Staaten nicht weiter. Er ermutigt die Regierungen dort nicht zu den richtigen Schritten, wo sie gebraucht würden. Sparauflagen treffen neuerlich die Kleinen, die sozial Schwachen, die Krebskranken in Griechenland, die dahin sterben, weil ihnen keine Medikamente mehr gezahlt werden (vergleiche Bericht des ARD-Mittagsmagazins). Zurückhalten muss sich aber der, der spekuliert hat, der auf den Untergang gesetzt hat. Unmoralische sind es, die die Zeche zu zahlen haben. Deutliche Worte braucht es nun, kein diplomatisches Wortgewinde eines Urteilsspruchs, der hoffentlich niemanden kränkt. Stattdessen gab es Zustimmung für einen zeitlich unbegrenzten „Rettungsschirm“ – bei Wind und Wetter soll er halten, doch der Orkan steht schon vor der Tür. Eine Ewigkeitsklausel für eine Installation, ein Getriebe mit Dauerlauf – und hoffentlich ohne Alterserscheinungen. Europa gibt sich der Abhängigkeit hin – und verbietet sich selbst die Entzugstherapie.
Auch zum Fiskalpakt kam aus Karlsruhe nichts. Wie Kommentatoren sagten, sei dieser ja übereinstimmend nicht zur Debatte gestanden. Zumal einige Länder schon ihre eigene Schuldenbremse hätten. Doch was nutzen Schuldenbremsen ohne Konjunkturprogramme? Was sind das für Perspektiven für Länder wie Portugal, wenn die deutschen Politiker für die Bundesrepublik bereits vorrechnen, dass in rund 170 Jahren die Verschuldung abgebaut wäre, würde man monatlich eine Milliarde einsparen? Wer auf Diät ist, braucht trotzdem Wasser und Vitamine zum Überleben – die richtigen. Das Drängen auf Einsparungen allein ist keine Lösung. Der Ansatz muss in einer Umgebung verwirklicht werden, wo er effektiv ist. Nicht der kleine Arbeiter aus Athen darf Sündenbock sein, es muss die Verwaltung sein, die den Toten über Jahrzehnte ihre Rente weiterbezahlt. Und es muss das Unternehmen sein, das hinterlistig die fehlende Infrastruktur ausnutzt, um Unmengen an Steuern zu hinterziehen. Eine Haftung für Banken, die denen das Geld hinterher wirft, die vergessen haben, den Abfluss zu dichten, ist wahrlicher Irrsinn.
Komisch auch, dass sich nach dem Urteilsspruch alle als Gewinner sahen. Selbst die, deren Klage zurückgewiesen wurde, taten so, als ob sie gesiegt hätten. Wie erbärmlich ist es, dass selbst die „Minimalanforderungen“ (so titelten die Zeitungen der Krisenstaaten genussvoll), die das Gericht an die Politik stellte, wenn es nun und in Zukunft um die „Rettung Europas“ geht, als riesiger Erfolg gefeiert werden? Viel eher zeigen sie, dass man sich in Deutschland mittlerweile darüber freuen muss, wenn das Bundesverfassungsgericht bei europäischen Entscheidungen überhaupt noch ein „aber“ erwähnt.
Muss ein Gericht bürgernah sein? Sicher würde manche Entscheidung im deutschen Justizsystem anders aussehen, wenn man nur auf die Polemik der Stammtische hört. Gerade im Straf- oder Zivilrecht, aber auch im Bürgerrecht spielen oft Empfindungen oder Emotionen eine entscheidende Rolle, weshalb es gut ist, dass niemand auf die Meinung solcher Stimmungsmache hört. Doch was ist, wenn es um Fragen der Gesellschaft geht, die uns alle betreffen? Eine überwiegende Mehrheit der Deutschen gab in repräsentativen Umfragen vor der Verkündung des Urteils an, man wünsche sich einen Sieg der ESM-Gegner. Und schon allein die über 30 000 angeschlossenen Kläger, die größte eingereichte Sammelklage der deutschen Geschichte, hatte gezeigt, dass ein vehementer Wind gegen den Stabilitätsmechanismus weht. Zwar hatte schon am Tag nach der Bekanntgabe der Karlsruher Entscheidung gut die Hälfte der Befragten Zufriedenheit mit dem Urteil bekundet – dies macht jedoch einzig klar, wie unsicher sich die Menschen in solch schwierigen Komplexen sind und wie mangelhaft die Informationspolitik funktioniert. „Im Namen des Volkes“ haben die Richter ihre Entscheidung verkündet – eigentlich dürften sie dies unter einer derartigen Prämisse nur mit schlechtem Gewissen tun dürfen. Denn wer sich in eklatanten Fragen über die Zukunft des Landes in strikter Weise gegen die Mehrheitsmeinung der Bürger auflehnt, der hat sich offenbar blindlinks vor den Karren der EU spannen lassen…
Dennis Riehle