IM Maria

VIELE TÄTER KENNT DIE WELT. DOCH NUR SELTEN KENNT SIE IHRE GESCHICHTEN
(Vincent Deeg)


Mutti, Mutti, hörte man zwei weinende Kinderstimmen durch den Hausflur rufen, während die sechsjährige Anja und ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Michael von zwei Männern in schwarzen Ledermänteln und einer Frau in einem grauen Kostüm die Treppen herunter gezerrt wurden und während, nur ein paar Etagen höher eine junge Frau voller Verzweiflung und Machtlosigkeit an ihrer offenen Wohnungstür zusammen brach.


Es waren dieselben Männer und dieselbe Frau, die nur wenige Minuten zuvor in ihrem Wohnzimmer gestanden hatte, um ihr mit kalter Stimme zu sagen, dass ihr Mann, von dem sie glaubte, er befände sich auf einer Angeltour, die er gemeinsam mit seinem Freund machte, bei dem Versuch, die DDR auf dem illegalen Weg zu verlassen, von den Grenzorganen der DDR gestellt und verhaftet wurde.


Man kann sich vielleicht vorstellen, welchen einen Schock diese Nachricht in der jungen Mutter ausgelöst haben muss. Was in ihr vor sich ging, als ihr bewusst wurde, dass der Mann, den sie über alles liebte, dass der Vater ihrer Kinder sobald nicht mehr nach Hause kommen würde.


Ein Moment, der sicher auch irgendwann das Gefühl des Zornes hervor gebracht hätte. In dem Augenblick, in dem ihre Gedanken klarer geworden wären. In dem sie erkannt hätte, dass der Mann, den sie liebte, sie nicht nur belogen, sondern auch allein gelassen hatte. Allein in einer Welt, in der man sie von nun an wie eine Aussätzige behandeln würde.


Gedanken, die sie vielleicht bald wieder verworfen hätte. Aus der Hoffnung heraus, dass all das nur aus dem Grunde geschehen war, weil ihr Mann, von dem sie wusste, dass er sie und die Kinder über alles liebte, seiner Familie ein besseres Leben bieten wollte. Ein Leben in einer Welt, die besser war, als diese.


Gedanken, die allesamt nachvollziehbar waren. Zu denen es aber zumindest in diesem Augenblick nicht kommen sollte. Denn noch bevor sich die junge Frau von dem ersten Schock erholen konnte, sollte auch schon der nächste folgen.


Denn nun erklärte man ihr, und das, ohne auch nur einen Moment auf ihre derzeitige Verfassung Rücksicht zunehmen, dass man sie nicht nur wegen des Verdachtes der Mitwisserschaft verhaften, sondern ihr auch ihrer Kinder wegnehmen könnte, die sie dann nie wieder sehen würde.


Worte, die keine leeren Drohungen waren. Weiß man doch heute, dass es in der DDR tausende Fälle gab, in denen ganze Familien zerrissen wurden. Tragödien, in denen die Eltern ins Gefängnis wanderten und deren Kinder für viele Jahre, wenn nicht sogar für immer verschwanden.


Doch diese Androhungen waren noch lange nicht alles, was man der jungen Mutter zu sagen hatte. Man erklärte ihr auch, dass sie mit einer einzigen Unterschrift all das verhindern könnte. Eine Unterschrift, die sie für alle Zeiten vor dem Gefängnis und vor der Wegname ihrer Kinder schützte.


Es war die Unterschrift auf einem Vertrag, vor dem selbst der Teufel seine Hut gezogen hätte. Ein Dokument, mit dem sich die junge Frau bereit erklären sollte, als inoffizielle Mitarbeiterin für die Staatssicherheit zu arbeiten. Ein Stück Papier, dass sie nicht nur zu einem Spitzel machte, der seine Familie und seine Freunde verriet, sondern dass ihr auch, genau wie die Verträge des Teufels, die Seele raubte, sobald sie es unterschrieb.


*


30 Jahre sind seit diesem Tag nun schon vergangen. Doch noch immer leidet Margot, die ehemalige IM Maria sehr unter deren Auswirkungen. Noch immer schreckt sie zusammen, wenn es an der Tür klingelt. Und noch immer füllen sich ihre Augen mit Tränen, wenn sie von ihren Erinnerungen eingeholt wird.


Erinnerungen an die Zeit, in der man ihr die Kinder als Faustpfand nahm. In der sie, keine Ausweg wissend den Vertrag unterschrieb und somit zum Spitzel wurde. An die Zeit, in der sie den Schrei ihres Gewissens nicht länger ertragen konnte und sie sich der Stasi verweigerte. Ein Schritt, der dazu führte, dass man sie nachträglich für 19 Monate ins Gefängnis warf und ihre beiden Kinder zur Adoption frei gab.


**


Margot, die noch immer in psychiatrische Behandlung ist, lebt heute allein in Hannover. Sie hat, nachdem Ihr Mann bei einem angeblichen Unfall im Strafvollzug Schwarze Pumpe in Spremberg ums Leben gekommen ist, nie wieder geheiratet.


Ihre Kinder Anja und Michael, die beide in einer jeweils anderen Familie aufgewachsen sind und von denen heute jeder selbst eine Familie hat, fand sie 1997 durch einen Zufall wieder. Sie besucht sie regelmäßig und ist ihren Enkeln eine liebe und gern gesehene Oma.


Diese Geschichte beruht auf eine wahre Begebenheit. Sie wurde mir von einem guten Freund erzählt.


Alle hier beschriebenen Namen wurden geändert.


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