Im Koka-Laster

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Ein Schlagloch holte mich wieder aus meiner Versunkenheit. Ich richtete mich auf, rieb mir die Augen, streckte meinen Kopf. Die Schatten von Stromleitungen, Laternenmasten und Bäumen glitten auf der Plane gen Heck – ihre Farbe verlieh dem durchleuchtenden Licht eine blaue Note. Mit Ausnahme der jungen Frau, die sich ihre langen Haare bürstete, schliefen die anderen noch. Ich schaute durch einen Spalt zwischen den Planken hinaus: Braune rötliche Erde, mit spärlichem Hochlandgras bewachsen, rauschte vorbei. Und wieder ließ ich mich rücklings auf die weichen Säcke fallen. Der Duft getrockneter Kokablätter wirbelte hoch. Hier lagen wir also, schaukelnd, schüttelnd, Richtung La Paz – der Stadt mit diesem so hoffnungsvollen Namen – fahrend.

Und das was ich – unbewusst – schon längst entschieden habe, war nun wahr geworden. Trotzdem lächelte ich. Vielleicht noch nicht realisierend, vielleicht. Auf jeden Fall aber darüber zufrieden, mich befreit zu haben, im Namen der Freiheit und für die Freiheit, zufrieden darüber, mich, mir selbst bewiesen zu haben. Nein, Geld spielte gerade keine Rolle, es war wertlos geworden. Geld soll nie mein Herz erdrücken. Wann immer meine Familie bei mir in Neukölln zu Besuch ist, heißt es, ich würde so einfach, so spartanisch leben, und man möchte wissen, wie lange noch, ich in dieser Bruchbude zu bleiben gedenke. Ich schaue dann immer aus meinem Fenster, auf den grünen Kirchhof, den weiten Himmel und die Wolken, und denke, je weniger der Mensch hat, umso freier ist er. Aber ich verstehe ihre Fragen, denn ein Mensch, der in ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen ist, wird den individuellen Reifeprozess immer auch mit materiellem Fortschritt gleichsetzen – selbst wenn seine Bildung dieses Credo als Torheit aufdecken könnte.

Ich schloss meine Augen: In Coroico genoss ich zwei ruhige erholsame Tage. Ich wanderte mit Sarah durch Pfade im Dschungel und später durch kleine Dörfer mit ihren neugierigen, aber scheuen Bewohnern. Coroico selbst wirkte surreal auf uns: Einerseits handelte es sich um ein kleine abgelegene, 3.500 Einwohner zählende, Gemeinde auf einem Hang, anderseits quirlten die Gassen förmlich über mit Leben. Zu Abend aßen wir Pommes und Hamburger. Unser Bier schmeckte malzig. Während wir auf unserem Essen kauten, versammelten sich immer mehr kleine dreckige Kinder um das Lokal: Sie setzten sich auf die Treppe, klettern das offene Fenster hoch oder nahmen auf den Plastikstühlen im Lokal selbst Platz – im Fernsehen lief Ice-Age. Den nachfolgenden Tag tranken und schrieben wir.

Trotz der nicht missen wollenden Erlebnisse der vergangenen sechs Wochen, die mich mehr verändert haben, als mir gegenwärtig bewusst zu sein scheint – sie haben mir noch mehr Angst genommen – habe ich entschieden. Nein, das ist kein Aufgeben, das ist schlicht und ergreifend, das Folgen eines tiefen Bedürfnisses in mir. Die Zeit wird entscheiden, ihre neuen Erfahrungen werden mich bestätigen oder die Alten romantisieren.

Gegen 10 Uhr morgens verließ ich das, in den immergrünen Hügeln gelegene, Gästehaus. Obwohl die Straße zum Dorf eine Länge von nur zwei Kilometern hatte, war sie unglaublich anstrengend: Unebenes, grobes Kopfsteinpflaster, verschlammt, nass vom nächtlichen Schauer, stellenweise von Rinnsalen durchquert oder weggeschwemmt, von Laub bedeckt – und das alles bei mörderischem Gefälle und drückender Luftfeuchtigkeit. Ich bin ein letztes Mal gefallen – ich habe mit mehr Stürzen gerechnet. Die Abfahrt bis nach Yolosa war deutlich einfacher, als die Auffahrt mit dem mich ziehenden Bus. Kurz hinter der kleinen Ortschaft staute sich der Verkehr: Ein Colectivo lag in einem Tank-Wagen verkeilt. Ich weiß nicht, ob es Verletzte gab – oder Tote. Schaulustig ist auch der Mensch in Bolivien.

Dann ging es Richtung La Paz, das Wetter stimmte ich froh: Freier Himmel, Sonnenschein, trockene Straße. Vielleicht würde ich schon am frühen Nachmittag Oruro erreichen. Doch leider hat sich mein morgendliches Gefühl bestätigt: Keine 30 Kilometer von Yosola entfernt, begann mein Motorrad wieder, wie schon auf der Hinfahrt, zu rütteln. Die Mechaniker noch, empfahlen mir eine neue Zündkerze in Bälde zu kaufen, aber sie hatten auch die Vermutung, dass irgendetwas mit der Elektronik nicht stimmte. Ich rollte aus, schalte den roten Starter auf ›aus‹. Ein Vogel schwebte über mich hinweg. Von Weitem erzählte ein Wasserfall. Ich wendete und rollte hinunter. Die Maschine sprang wieder an. Ich wendete und fuhr wieder hinauf. Und dann schaltete sich der Motor wieder aus, nach nur wenigen Metern. Endgültig. Für mich, für immer.

Ich wendete abermals und rollte hinunter, rollte auf eine Einfahrt – der Besitzer sollte mir später sagen, dass sein Haus, dass einzige im Umkreis von 15 Kilometern sei – schilderte dem Besitzer den Grund meines Stopps und zusammen schoben wir das Motorrad unter eine Traufe und ich schnallte die Koffer ab, nahm mein großen Rucksack und packte alle meine Sache um, und Wilfried fragte, wann ich zurückkomme, und ich antwortete ›ja, morgen, vielleicht in drei Tagen, es kommt ganz darauf an‹ und dann verabschiedete ich mich von ihm und ging auf die Straße und ging Richtung La Paz und nach wenigen Schritten schon hielt ich einen Lastwagen an und der Fahrer nahm mich auf seiner Ladefläche mit und irgendwann fiel ich leichten Schlaf, schaukelnd, schüttelnd – aber ich lag auf weichen Säcken.

Und wenn sich kein Käufer findet, dann soll die Maschine dort verrosten – dort in den Bergen, zwischen Tropen und Hochland. Und vielleicht werde ich später bereuen. Vielleicht, denn für manches ist man manchmal zu jung.


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