Im Kern verbrecherisch - Kann man bei der Wehrmacht Leistungen würdigen?

Eine Forderung, die in rechten Kreisen periodisch immer wieder aufs Tablett kommt, ist, "Leistungen der Wehrmacht zu würdigen". Die dahintergehende Idee ist erst einmal eingängig. Zwar waren Wehrmachtssoldaten immer wieder in Kriegsverbrechen verstrickt, aber nicht jeder von ihnen. Deswegen müsse man trennen zwischen den Verbrechen von Wehrmachtssoldaten und der Wehrmacht als Institution. Die militärischen Leistungen letzterer, die unter Militärhistorikern in Grundzügen relativ unumstritten sind, könne man dann würdigen. Eine ähnliche Diskussion liegt den Traditionen der Bundeswehr zugrunde; zuletzt geriet sie im Zusammenhang mit einem Bild des jungen Leutnants Helmut Schmidt in die Kritik (hier im Blog thematisiert).
Die Bundeswehr hat geregelt, dass die Wehrmacht als Ganzes "nicht traditionsstiftend" sein kann:
„Der verbrecherische NS-Staat kann Tradition nicht begründen. Für die Streitkräfte eines demokratischen Rechtsstaates ist die Wehrmacht als Institution nicht traditionswürdig.“
Zum ersten Mal legte sie dies in dieser Deutlichkeit 1982 fest. Seither wurde der Traditionserlass immer stärker auf eine Trennung der Wehrmacht aus dem Traditionskorpus hinaus ausgelegt. Die Bundeswehr beruft sich darauf, dass die Tradition deutschen Militärs vor die Zeit des Grundgesetzes reicht. Das ist notwendig, um einen Anknüpfungspunkt für die Reichswehr, die kaiserliche Armee, die preußische Armee und die verschiedenen anderen Armeen des Deutschen Bundes sowie, natürlich, die Freiwilligenverbände der Befreiungskriege zu schaffen. Meines Wissens nach werden die Traditionslinien nicht über 1813 hinaus geschrieben.

Traditionslinien jenseits des Hakenkreuzes

Das Problem, das sich dabei offenkundig auftut, ist, dass diese Armeen nicht immer, sagen wir, für die vorbildlichsten Regierungen antraten. Wir tun uns heute glücklicherweise schwer mit der preußischen Obrigkeitshörigkeit und sehen die Aspirationen der Wilhelm'schen "Weltpolitik" auch nicht unbedingt als nachahmenswert. Für die Marine etwa ist es somit schwierig, sich in eine direkte Linie mit einem imperialistischen Instrument wie der kaiserlichen Marine zu stellen, während das Heer durchaus Probleme damit haben dürfte, sich in eine direkte Linie mit "Gegen Demokraten helfen nur Soldaten" zu stellen. Auch die Ablehnung von Militäreinsätzen im Inneren hat eine lange, aus der Geschichte begründete Tradition.
Deswegen versucht sich die Bundeswehr seit mindestens 1982 an der Quadratur des Kreises.
Zum einen möchte man nicht darauf verzichten, sich auf die historischen Erfolge deutscher Militärtradition zu berufen. Von Clausewitz bleibt bis heute grundlegend relevant. Das Lützower Freikorps dient unserer Fahne als Inspiration. Die deutschen Armeen legten stets einen großen Fokus auf Infrastruktur und Mobilität, der sich mehrfach auszahlte. Und so weiter.
Zum anderen aber wurden dieselben Erfolge dazu benutzt, demokratische Revolutionen niederzuschießen, Nachbarn zu überfallen, Völkermorde zu verüben, aktiv mitzuarbeiten, einen Weltkrieg zu entfesseln und die erste deutsche Demokratie zu verraten. Und das ist, bevor die Nazis überhaupt ins Bild rücken.
Die Lösung der Bundeswehr hierfür ist, die Institutionen von den jeweiligen Einzelleistungen zu trenne. An und für sich ist das ein völlig normaler Vorgang; wir tun dasselbe in praktisch jedem anderen Bereich auch. So kann die Bundeswehr in ihren Seminaren problemlos von Clausewitz' strategischen Sachverstand hervorheben und gleichzeitig kritisch die Funktion der preußischen Armee als Repressionsinstrument betrachten.

Im Kern verbrecherisch

Die Wehrmacht allerdings, und damit sind wir beim Kern der Sache, konstituiert einen Sonderfall. Es ist nämlich problemlos möglich, die kaiserliche Armee zu loben und deren militärische Leistungen hervorzuheben (sie ist die vermutlich beste deutsche Armee, die je existiert hat), obwohl diese einen Anteil am Ausbruch des Weltenbrands des Ersten Weltkriegs hatte. Das liegt darin, dass der Hauptzweck der kaiserlichen Armee die Landesverteidigung darstellt. Dass das strategische Verteidigungskonzept den Präventivkrieg gegen Frankreich vorsah können wir kritisieren und verdammen und kritisieren, aber es disqualifiziert nicht die Marschleistungen des linken Flügels an der Marne.
Das gilt auch für die Frage von Kriegsverbrechen. Jede Armee verübt Kriegsverbrechen. Sie können praktisch nicht ausbleiben, wo mehrere Millionen junger Menschen tagtäglich von Gewalt umgeben sind. Legendär sind die Kriegsverbrechen deutscher Soldaten in Belgien 1914. Es wäre naiv anzunehmen, dass französische Soldaten sich signifkant anders verhalten hätten, wenn Plan XVII der erhoffte Erfolg beschieden gewesen wäre und die französischen Truppen auf Freiburg vorgerückt wären.
Die Wehrmacht aber ist ein gänzlich anderer Fall. Hier handelt es sich nicht um eine Armee zur Landesverteidigung, die auch Kriegsverbrechen begangen hat. Die Wehrmacht ist in ihrem Kern eine verbrecherische Organisation. Ihre gesamte Konzeption war von Beginn an auf Verbrechen ausgerichtet. So war sie dezidiert zur Vorbereitung und Durchführung eines Angriffskrieges ausgelegt. Vor diesem Hintergrund wurden in Nürnberg die Generäle wie Jodl abgeurteilt. Seit 1927 war dies nämlich durch eine auch von Deutschland unterzeichnete Übereinkunft - der Kellog-Briand-Pakt - illegal.
Doch damit nicht genug. Die Wehrmacht war außerdem von Beginn an für die Planung und Durchführung von Kriegsverbrechen ausgelegt. Hitler konzipierte seine Kriege von Beginn an als Rassenkriege. Der Vernichtungsaspekt war ihnen damit immanent. Von der ersten Stunde des Grenzübertritts nach Polen in den Morgenstunden des 1. Septembers 1939 war die Wehrmacht aktiv an Kriegsverbrechen beteiligt, bereite diese vor und führte sie in Teilen auch durch.
Dass die Hauptlast dieser Verbrechen bei nachgeordneten Einheiten der SS lag - den so genannten Einsatzgruppen - spielt dafür keine besondere Rolle. Denn sämtliche NS-Mordverbände waren für ihr Funktionieren unabdingbar auf die bedingungslose Zusammenarbeit der Wehrmacht angewiesen. Dass in der Frühphase des Krieges die Wehrmachtssoldaten und -offiziere sich die Finger selbst nicht schmutzig machten, ist ungefähr so bedeutsam wie die Ausrede der KZ-Wache, dass sie persönlich ja nicht gemordet habe.
Selbst in den ersten beiden Kriegsjahren war der Pfad der Wehrmacht bereits von Kriegsverbrechen gesäumt. Vor allem auf dem Balkan kämpfte die Armee von Beginn an einen wahren Vernichtungsfeldzug mit der geplanten Ermordung zehntausender von Zivilisten, eine Praxis, die auch auf Griechenland überschwappte, als das Land 1941 in einem improvisierten Feldzug überrannt wurde. Gerade die Fallschirmjäger, die sich lange als unpolitische Elitetruppe verstanden, vermieden es krampfhaft, sich mit den massenhaften Verbrechen ihrer Vorgänger auf Kreta auseinanderzusetzen, die ebenfalls von Beginn an von oben befohlen worden waren.

Dammbruch im Osten

Jeglicher Versuch, die Wehrmacht von den offensichtlich mörderischen Institutionen des NS-Verbrecherstaates zu trennen, wird spätestens 1941 zur Makulatur. Mit dem Unternehmen "Barbarossa", dem Überfall auf die Sowjetunion, erhielt die Wehrmacht mehrere Befehle aus ihrer obersten Heeresleitung (OHL), die auch nach damaligen Maßstäben klar verbrecherisch, illegal und jenseits jeder Menschlichkeit waren und ihren Charakter als im Kern verbrecherische Organisation festschrieben. Die wichtigsten dieser Befehle will ich kurz anreißen. Berühmt-berüchtigt ist der Kommissarbefehl, der alle Wehrmachtssoldaten dazu verpflichtete, Politkommissare der Roten Armee sofort nach Gefangennahme und Verhör zur ermorden. Gleiches galt für die Bekämpfung von "Partisanen", ein Sammelbegriff, der in seiner bewussten Unbestimmtheit unterschiedslosen Massakern Tür und Tor öffnete und für Hunderttausende von Opfern aus den Händen von Wehrmachtssoldaten sorgte.
Am offenkundigsten aber wird der verbrecherische Charakter der Wehrmacht mit den Hungerbefehlen. Die Planung des Russlandfeldzuges sah vor, dass die Wehrmacht nicht aus Deutschland versorgt würde, sondern alle benötigte Nahrung requirierte. Der millionenfache Hungertod in den besetzten Gebieten wurde nicht nur billigend in Kauf genommen; er war im Geiste des Vernichtungskriegs erklärtes Ziel. Auch Planung und Durchführung des Holocaust wären ohne logistische Unterstützung der Wehrmacht nicht möglich gewesen.

Alliierte Kriegsverbrechen

Wir erkennen also, dass der wichtigste Unterschied der Wehrmacht (und übrigens auch der japanischen Armee) zu den alliierten Armeen in der Zielsetzung bestand. Auch die Rote Armee verübte auf ihrem Vormarsch nach Westen in flächendeckendem Ausmaß Kriegsverbrechen. Diese waren allerdings nicht das erklärte Ziel Stalins; entsprechende Befehle, etwa eine Analog für NS-Führungsoffiziere zum Kommissarbefehl, wird man vergeblich suchen. Es wäre zu viel Naivität anzunehmen, ein brutaler Massenmörder wie Stalin hätte auch nur einen Gedanken daran verschwendet, die Praxis einzudämmen.
Er gab aber nie Befehle für Massenmorde aus, ließ nie absichtlich die Genfer Konvention brechen (die er nicht unterzeichnet hatte). Stalins Kriegsverbrechen entstehen aus reiner Ignoranz, aus einem Unterlassen jeden Versuchs, die Wirkung des Krieges auf Zivilisten oder Gefangene einzuhegen. Angesichts der Brutalität gegenüber seiner eigenen Bevölkerung und den Morden an der Elite der ostueropäischen Länder ist diese Zurückhaltung mehr als bemerkenswert. Es sprengte den Rahmen dieses Artikels, eine entsprechende Untersuchung für die Rote Armee zu unternehmen, aber sie ist bestenfalls partiell als eine im Kern verbrecherische Organisation einzustufen. Dass man als Betroffener wenig Unterschied zu einem schwedischen Kriegshaufen des Dreißigjährigen Krieges verspürt haben dürfte, ist davon unbenommen.
Anders sieht es bei den Westalliierten aus. Die Kriegsverbrechen, die in ihren Reihen verursacht wurden, sind in Europa überwiegend spontane Ereignisse auf individueller Truppenebene, die bestenfalls nachlässig verfolgt wurden. Schwieriger einzuordnen sind die Aktionen der Luftwaffe, deren unterschiedsloses Flächenbombardement den größten Vergleich zu deutschen Kriegsverbrechen hervorruft. Es ist schwer von der Hand zu weisen, dass hier der Tod von Zivilisten zumindest billigend in Kauf genommen wurde. Die Briten zumindest betrachteten das "moral bombing" auch explizit als Strategie, wenngleich sie im Verlauf des Krieges wie die USAAF auch immer wieder schwankten und unterschiedliche Zielsetzungen ausprobierten.
Der Bombenkrieg, der seine ultimative Steigerung im Atombombenabwurf von Hiroshima und Nagasaki im August 1945 fand, ist allerdings in der Logik einer Eskalationsspirale einzuordnen, die sich wesentlich von der Natur deutscher Kriegsverbrechen unterscheidet. Zur Erinnerung: Die Wehrmacht betrachtete die Vernichtung von Zivilisten als ihre Kernaufgabe. Hitler plante seine östlichen Feldzüge explizit als Vernichtungskriege. Das ist für die Alliierten nicht der Fall. Sie betrachteten den Tod von Zivilisten als akzeptablen Preis zum Erreichen ihrer Ziele.
Diese Ziele bestanden darin, das Morden der verbrecherischen Wehrmacht so schnell wie möglich und, das ist entscheidend, unter so wenig Verlusten wie möglich für die eigene Seite zu beenden. Besonders die Briten waren durch die gewaltigen Verluste des Ersten Weltkriegs nachhaltig traumatisiert. Die komplette britische Strategie im Zweiten Weltkrieg sah die Vermeidung von Verlusten als höchste Priorität; eine Priorität, die von den USA als demokratischer Nation, die sich auch im Krieg Wahlen stellen musste, geteilt wurde.
Die Konsequenz war, dass die Westalliierten grundsätzlich so viel Feuerkraft wie möglich konzentrierten. Das führte, wie etwa in Crailsheim 1945, zur völligen Vernichtung von Städten oder Dörfern, die nicht kapitulierten, weil man den Verteidigern nicht den Gefallen tun wollte, einen Häuserkampf zu führen, der riesige eigene Verluste bedeutete. Wo diese Logik für die Artillerieabteilungen der jeweiligen Heere galt, galt sie in verstärktem Maße für die Luftwaffen.

Der Luftkrieg

Seit den 1920er Jahren hatten Theoretiker des Luftkriegs das strategische Bombardement als Lösung aus der Falle gesehen, wie im Ersten Weltkrieg einen "Fleischwolf" zu entwickeln. Verfechter dieses Bombardements sahen es als Mittel zur Verlustvermeidung auf beiden Seiten (natürlich mehr auf der eigenen, aber grundsätzlich beiden). Dass dies nicht funktionierte, war den Beteiligten nicht klar. Erst Studien nach dem Krieg belegten zweifelsfrei die Wirkungslosigkeit von moral bombing (und, was gerne vergessen wird, die Effektivität strategischen Bombardements gegen Verkehrsanlagen und Industrie).
Zudem sollte man nicht vergessen, dass es die deutsche Luftwaffe war, die das strategische Bombardement als Mordmittel gegen Zivilisten begann. Von den ersten Septembertagen 1939 an war die Luftwaffe in mörderischer Absicht Bomben auf Warschau; Rotterdam und Coventry standen später als Symbole für deutschen Vernichtungswillen und Barbarei. Die Alliierten nahmen daher nicht völlig zu Unrecht für sich in Anspruch, nur auf deutsche Praxis zu reagieren. Dass die ineffektive deutsche Kommandowirtschaft nie in der Lage war, das Ausmaß alliierten Bombardements zu erreichen, liegt sicherlich nicht am fehlenden Willen der Kommandeure zur Vernichtung.

Fazit

Wir wollen daher zusammenfassen. Die Wehrmacht ist im Zweiten Weltkrieg singulär in ihrer Anlegung als Instrument des Vernichtungskrieges. Sie spiegelt damit die Singularität des Holocausts: Konzentrationslager waren per se keine neue Idee. Die Briten nutzten sie im Burenkrieg, und Stalin verwandelte mit den Gulags sein Land in ein einziges riesiges Lager. Der Unterschied war die Zielsetzung. Die Deutschen waren allein darin, ihre Institutionen als Vernichtungsinstrumente zu begreifen.
Die Festlegungen der Bundeswehr sind daher ein wichtiger Präzedenzfall, und sie ist nicht nur für die Armee relevant. Auch die deutsche Gerichtsbarkeit tat sich lange Zeit schwer damit, sich nicht in eine Tradition mit der Nazi-Justiz zu stellen. Man denke nur an Filbingers völliges Unverständnis von "Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein". Selbstverständlich kann es das. Das anzuerkennen war für alle betroffenen Institutionen ein schmerzhafter und anstrengender Prozess.
Das anzuerkennen ist aber entscheidend dafür, die Frage nach den Leistungen der Wehrmacht zu klären. Sicherlich gab es auch brillante Juristen im dritten Reich. Aber sie standen im Dienst eines Unrechtssystems. Wir würdigen auch nicht die herausragenden Leistungen der DDR-Grenzer im Abschotten ihres Staates oder die beeindruckend Spitzel-Abdeckung der Stasi. Leistungen der Wehrmacht lassen sich nicht würdigen, weil sie im Dienste eines verbrecherischen Systems für verbrecherische Ziele in einer verbrecherischen Institution errungen wurden.
Jeder Versuch, dies trotzdem zu tun, ist ein Versuch, den epochalen Einschnitt, die Singularität der Verbrechen des Nationalsozialismus' zu relativieren. Es ist der berüchtigte "Fliegenschiss" Gaulands. Ebenso wie sich jeder LINKE-Politiker außerhalb des demokratischen Konsens' stellt, der versucht, den Mauerbau als notwendige strategische Maßnahme zu relativieren, so stellt sich jeder außerhalb des demokratischen Konsens, der den Kern des NS-Regimes verleugnet.
Und das tut, ob bewusst oder unbewusst, jeder, der glaubt, die Leistungen dieser Epoche würdigen zu wollen.

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