Im Bingobaukasten des Alarm-Journalismus

Im Bingobaukasten des Alarm-JournalismusDeutsche Premiumjournalisten dürfen bei der Arbeit keine Archive benutzen, auch das Einschalten von Taschenrechner oder gesundem Menschenverstand ist streng untersagt. Der "Tagesspiegel", der sich streng an diese Grundregeln hält, konnte jetzt einmal mehr beispielhaft demonstrieren, wie aus dieser liebevollen Manufaktum-Nachrichtenmaschine wunderbare Schlagzeilen entstehen können. Schreckliches weiß das Hauptstadtblatt über die zuletzt bedrohliche Lage an der Front der rechtsradikalen, rechtsextremen und rechtsextremistischen Straftaten zu berichten. "In den ersten drei Monaten dieses Jahres haben Neonazis und andere rechts motivierte Kriminelle bereits mindestens 2820 einschlägige Straftaten verübt", heißt es in einem Beitrag, der auf einer Auskunft des Bundesinnenministeriums auf die seit Jahren monatliche gestellte Anfrage der Linksparteipolitikerin Petra Pau beruht.
2820 Straftaten also. In nur drei Monaten. Kenner wissen, dass es schlecht um die baldige Errichtung des 3. oder 4. Reiches stehen muss, wenn das im Zusammenhang mit der Berichterstattung über "rechte Straftaten" (Angela Merkel) über Jahre hinweg zwingend vorgeschriebene Standard-Fügung "neue Rekorde" nicht im Text vorkommt. Hier fehlt sie - und siehe da: 2820 Straftaten hochgerechnet auf zwölf Monate wären in einem ganzen Jahr 11.280! Mithin 8200 weniger als noch 2009, als die Behörden 19.468 Fälle melden konnten. Auch das waren damals schon 4,7 Prozent weniger als noch 2008.
Was ist nur mit unseren Rechten los? Der Trend ist eindeutig, die Tendenz selbst mit Beschwörungen aus dem Bingobaukasten des Alarm-Journalismus nicht mehr zu übertünchen. Die "rechte Gefahr" (Merkel) schwächelt, der "braune Sumpf" (Holger Hövelmann) droht in sich selbst zu versinken. Diesmal droht gleich ein Einbruch bei den Fallzahlen um satte 43 Prozent - und das, obwohl als "rechte Straftat" inzwischen auch zählt, wenn ein Fünfjähriger nach einem Indien-Urlaub versucht, eines der dort gebräuchlichen Sonnenrad-Ornamente nachzuzeichnen. Bei den gefürchteten "rechten Gewalttaten" sieht es nicht besser aus: 126 stehen in den ersten drei Monaten zu Buche - aufs Jahr hochgerechnet ergäbe sich eine Gesamtanzahl von 504. Nachdem das Vorjahr bereits einen Rückgang von 682 auf 624 Gewalttaten Rechter brachte, droht nun ein Rutsch bis auf die Marke von 500.
Heulen und Zähneklappern bei vielen gutgemeinten und durchfinanzierten Projektwerkstätten zu Reintegration Rechter, Rechtsradikaler, Rechtsextremer und Rechtsextremisten. Die Papiere mit den dramatisch zurückgegangenen Zahlen lägen dem Tagesspiegel vor, heißt es, eine Lösung für die erschütternde Statistik aber gibt es nicht. Alle Angaben seien vorläufiger Natur, man hoffe, dass die Polizei noch "viele Fälle nachmeldet", schreiben die Rechtsreporterbisher sei "ein Vergleich mit den Werten aus den vorangegangenen Jahren schwierig". Nicht mal mit den vorläufigen Zahlen mag man da noch vergleichen. 3273 waren es 2009 und 3364 im Jahr 2008. So steht es bei Petra Pau. Aber natürlich, Recherchen im sogenannten Internet, die dem Leser bei der Einordnung von angeführten Zahlen und Fakten helfen könnten, sind echten Manufaktum-Journalisten selbstverständlich auch verboten.


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