Ich weiß nicht, was es soll, dass ich so traurig bin, das Märchen von 1922, es geht mir nicht aus dem Sinn

Von Stefan Sasse
Der Parteitag der LINKEn ist vorbei, der Staub legt sich erst langsam. Die Partei hat eine neue Führung gewählt, die wie die alte mit vertauschten Gesichtern wirkt: statt Ernst und Lötzsch nun Riexinger und Kipping. Die Hoffnung ist wohl, dass sie nicht anecken und der Partei ermöglichen, an die alten Wahlerfolge anzuknüpfen, indem die parteiinternen Konflikte abgekühlt werden. Doch mehr noch als die Wahl dieser Vorstände hat Gregor Gysis Rede die Gemüter erhitzt. Er sprach von pathologischem Hass innerhalb der Fraktion, nahm das Wort Spaltung in den Mund (was ihm Lafontaine reichlich übel nahm) und konstatierte, dass die LINKE aus zwei unterschiedlichen Parteien bestünde, einer "Volkspartei" im Osten und einer "Richtungspartei" im Westen. Selten hat ein Fraktionsvorsitzender seine eigene Partei so schonungslos analysiert. Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, sind offen und unter einer Kaskade von Deutungen und Absichtsbekundungen begraben. Trotz aller harscher Kritik und gegenseitiger Anfeindungen, die sich auf dem Parteitag der LINKEn fanden, betonte doch jeder, dass die Einheit der Partei ein wichtiges Ziel sei, das unbedingt verfolgt werden müsse. Das Wort von der Spaltung aber hängt in der Luft wie ein böser Geist, der, einmal gerufen, nicht mehr losgeworden werden kann. 


Die erste Sache, die diskutiert werden muss, ist Gysis offen getroffene Unterscheidung zwischen West- und Ost-LINKE. Die eine sei eine Richtungspartei, und müsse deswegen auch Totalopposition fahren (beziehungsweise kann das tun), die andere habe mehr Verantwortlichkeiten wegen ihrer hohen Wahlergebnisse und müsse daher kompromissbereit sein. Gysi hat für diese Unterscheidung viel Kritik geerntet. Seine mehr als deutliche Herausstellung dieser Trennlinie, die tatsächlich mehr als ungewöhnlich ist (wer könnte sich Kauder vorstellen, der erklärt, wo CSU und CDU nicht zusammenpassen?). Um diese Unterscheidung bewerten zu können muss man sich erst einmal klarmachen, von was Gysi überhaupt spricht. Eine Volkspartei ist per Definition eine Partei, die Wähler in allen Schichten des Volkes hat und den Anspruch erheben kann, alle oder doch zumindest einen großen Teil der Schichten zu repräsentieren. Dieses Wort ist hervorgehoben, weil es nicht darum geht, ob die Politik dieser Partei gut oder schlecht für alle Schichten ist. Sie repräsentiert sie, durch Wahl. Eine Richtungspartei dagegen ist ein Begriff, den Gysi erfunden hat. Man muss daher etwas spekulieren, was er meinte. Ich vermute, er umschreibt das Phänomen etwa der FDP oder der Grünen und neuerdings der Piraten, eine Partei also, die von einer bestimmten Richtung gewählt wird. In diesem Fall Linken, so ungenau der Begriff auch ist. 


Ein anderes Problem aber, dem Gysi fast noch mehr Aufmerksamkeit widmet, ist der "pathologische Hass" innerhalb der Fraktion, vulgo die gnadenlosen Richtungskämpfe. Es ist wie in den Hochzeiten der Sozialdemokratie, Reformer gegen Revolutionäre. Muss man die besseren Lebensbedingungen gegen oder mit dem System erringen? Es ist unselige Tradition der Linken, sich zu spalten in Teile und Kleinstteile, die sich gegenseitig erbittert bekämpfen (der Monty-Python-Gag von der "Volksfront von Judäa" und der "Judäischen Volksfront" kommt nicht von ungefähr). 1917 teilte sich die SPD in die USPD und die MSPD, von der USPD spaltete sich der Spartakusbund, aus dem wiederum die KPD hervorging, die in einer weiteren Spaltung Mitglieder und Wähler von der USPD erhielt, deren Reste 1922 die Wiedervereinigung mit der SPD vollzogen. Unausgesprochen steht das Szenario plötzlich im Raum. Lafontaines Zeit ist vorbei, die SPD wirbt offen um Bartsch, und die Trennung von Ost- und West-LINKE erscheint unter diesen Auspizien plötzlich machbar.

Wahrscheinlich ist dieses Szenario nicht, aber im Kopf manches Parteistrategen dürfte eine Fraktionsgemeinschaft zwischen SPD und Ost-LINKE nach dem Modell der CSU plötzlich wesentlich besser aussehen als bisher. Ein solcher Schritt ist, erneut, unwahrscheinlich, seine Folgen nicht absehbar. Dass überhaupt darüber nachgedacht wird ist eine direkte Folge dieses Parteitags.
Die LINKE steht jedoch an einem Scheideweg. Unbestreitbar gibt es widerstreitende Präferenzen und Ansichten über den Sinn der Partei, über ihre Zielsetzung und wie man sie erreichen soll. Die Gretchenfrage sind und bleiben Koalitionen mit der SPD. Will die LINKE eine Regierungsbeteiligung, so ist das nur über die SPD zu erreichen, das ist Fakt. Gegen die Sozialdemokratie wird sie immer eine Oppositionspartei bleiben. Der Graben, der sich durch die Partei als Ganzes zieht, macht eine Koalition auf Bundesebene 2013 völlig unmöglich, da ändern auch alle scheinbaren programmatischen Überschneidungen nichts. Kurt Becks Entscheidung in seiner Zeit als SPD-Vorsitzender, die Linie "im Osten ja, im Westen nein" auszugeben, erscheint in diesem Licht als strategisch durchdachter und vorausschauender, als es vielen - auch mir - damals erschien. Gysi hatte Recht, als er die Erfolge Lafontaines und des Westteils der LINKEn seit 2004/2005 betonte. Ohne ihn wäre die PDS im Westen immer noch irrelevant und müsste um die 5%-Hürde zittern, und ohne ihn hätte die neoliberale Reformagenda der rot-grünen Ära vielleicht sogar eine Steigerung erfahren. Niemand kann diese Erfolge wegdiskutieren. Aber genausowenig kann man den Abstieg der Partei seit 2009 einfach ignorieren oder nur der feindlichen Medienlandschaft in die Schuhe schieben. Die LINKE muss entscheiden, welche Schlüsse sie daraus zieht, und diese Entscheidung wurde erst einmal verschoben.


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