Ich weiß nicht was das soll, dass ich so traurig bin, das Märchen von 1914, es geht mir nicht aus dem Sinn

Von Stefan Sasse
Als die europäischen Mächte 1914 in den Ersten Weltkrieg schlittern, teilten ihre Staatenlenker alle ein Gefühl: das hatten sie nicht gewollt. Das durfte nicht sein. Das war furchtbar. Als unvermeidlich sahen es viele trotzdem, und mit düsterem Fatalismus sahen sie dem Kommenden entgegen. Greys Statement "in Europa gehen die Lichter aus, und wir werden sie zu unseren Lebzeiten nicht mehr wieder angehen sehen" gibt diesem Gefühl Ausdruck und sollte sich als allzu wahr erweisen. Heute stehen die Staaten Europas wieder im Frühsommer 1914. Eine Katastrophe wetterleuchtet am Horizont, von ihnen selbst heraufbeschworen, eine unheimliche Dynamik entwickelnd. Ihre eigene Handlungsfähigkeit haben sie fahrlässig bereits Jahre zuvor aus der Hand gegeben. Wie 1914 ist der Druck genau der Gruppe, ihren Plänen und Automatismen zu folgen, die die Krise überhaupt erst heraufbeschworen immens. Wo 1914 das Militär seine starren Pläne nicht ändern wollte und außer dem eigenen Interesse keine Fakten und Situationen anerkannte ist es heute die Hochfinanz, die der Politik die nächsten Züge diktiert. Schritt um Schritt nähert man sich dabei dem katharsischen Zusammenbruch an. Schon jetzt schreit der Boulevard, vorheriger scheinbarer Verbündeter der Staatenlenker damals wie heute, diese Katharsis herbei. Wenn doch der gordische Knoten nur schon durchhauen wäre! Wie lange kann es dauern, bis die Politik, ohnehin nicht mit starkem Willen gesegnet, diesen Wünschen nachgibt? 
Im Sommer 1914 war es nur eine Frage von sich zu allzu kurzen Wochen dehnenden Tagen. Das Ergebnis ist sattsam bekannt; vollkommen unberührt von jedem Verantwortungsgefühl für das große Ganze oder jeder Rücksicht auf andere Wege schickte sich das Militär an, seiner Vorstellung von Wirklichkeit Raum zu verschaffen und drängte alle anderen Realitäten beiseite. Heute verschafft sich einzig und allein der entfesselte Finanzkapitalismus noch Raum. Die erste Totalkapitulation haben wir dieses Wochenende erlebt. Der griechische Premier hielt dem Druck nicht mehr stand, versuchte noch in einer letzten Trotzgeste, das Heft des Handelns dem Volk zuzuwerfen, bevor ein Brutus aus seiner eigenen Partei ihm doch noch in die Parade fuhr. Griechenland taumelt ins Chaos, und der Bouelvard spuckt Gift und Galle und feiert die deutsche Kanonenbootpolitik, als wagte man den Panthersprung nach Agadir. Was geschehen wird, weiß niemand. Es wird wohl kein Weltkrieg werden. Es wird keinen Einmarsch in Athen geben, oder ein Ultimatum. Aber der Primat des Politischen liegt in den letzten Zügen waidwund darnieder. Der November 2011 könnte einen Scheidepunkt in der Geschichte der Europäischen Union darstellen, eine endgültige Abkehr von all dem, was man seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sich schmerzhaft angeeignet zu haben glaubte. War nicht die europäische Freundschaft, das Band demokratischer Nationen untereinander, die sine qua non des Friedens und des Wohlstands, den man seit 1945 erreicht hatte? All das zählt nicht mehr. Die Brigaden Deutschlands zählen heute in Euro, nicht in Kolonnen in Feldgrau. Trotzdem ersaufen die Deutschen geradezu in ihrer Begeisterung für die neue Stärke. Richtig nutzen können sie sie nicht, aber kaum mehr gehen vor lauter Kraft. Der amerikanische Präsident hat in den letzten Wochen mehrfach eindringlich gewarnt, dass Europa sich auf einem Irrweg befindet. Aber welche Rolle spielt schon das Weiße Haus? Welche Rolle spielt Brüssel? Der neue Nabel der Welt ist in Berlin gefunden worden, wohl gleich neben einer Niederlassung der HRE. Wenn Merkel erst begriffen hat, welche Chance in Griechenland fahren gelassen wurde, könnte es bereits zu spät sein - so wie es bereits einmal zu spät war, damals im Sommer.

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