Ich verachte ihre Meinung ...

Die brachiale Shitstorm-Mentalität des modernen Spießbürgertums treibt seltsame Blüten. Als Linker wird man da plötzlich zum Advokaten seiner politischen Gegner. So habe ich schon Christian Wulff und Jörg Kachelmann publizistisch verteidigt. Und nun auch noch Beate Zschäpe.
Eigentlich sind mir Wulff, Kachelmann und letztlich natürlich auch Zschäpe politisch völlig fremd. Ich komme aus einem anderen politischen und sozialen Milieu und kann mit deren neoliberalem oder gar rassistischem Weltbild, mit ihrem parteipolitischem Apparatschiktum gar nichts anfangen. Und trotzdem habe ich sie zuweilen schon gegen ein selbstgerechtes bürgerliches Weltbild "verteidigt", in dem sie zum Spielball billiger Affekte und inquisitorischer Haudrauf-Rhetorik wurden.

So war es also bei der Kampagne Springers gegen Wulff, bei Kachelmanns Vorverurteilung – und so ist es nun im Falle Zschäpes, die zur Bestie und zum Teufel stilisiert wird, als könne man ihre Mittäterschaft entmenschlichen; als sei die Bereitschaft zu Mord und Bombenbau, zu Hass und Amoralität nicht Teil der menschlichen, ja sogar der bürgerlichen Natur.
Ich verachte Ihre Meinung, aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie sagen dürfen – diesen irrtümlich Voltaire zugeschriebenen Satz würde ich nicht ganz unterschreiben. Denn mein Leben gäbe ich nicht. Und nicht alles was nach Meinung aussieht, muss ja Meinung sein. Ich bin nicht dafür, dass Zschäpe ihre "Meinung"verbreiten sollte. Aber meine auf Gerechtigkeitsgefühl und Maßhaltung bauende Publizität möchte schon, dass allenfalls liberale Ideale wie zum Beispiel nüchterne Unaufgeregtheit der Justiz, Verständnis für Entwicklungen oder analytische Sachlichkeit eingehalten werden. Ich verachte also ihre Meinung, aber ich bediene meine Tastatur dafür, dass diese Verachtung anständig und nicht zu emotional, zu totalitär geschieht, wie es das Klatschpressen-Spießbürgertum zuweilen liebt.
Mindestens so gefährlich wie Korruption, Sexismus oder Rassismus ist dieses Spießbürgertum, das sich im Anflug von political correctness aufschwingt, all diese liberalen Werte auszuhöhlen. Sie sind die Essenz einer Gesellschaft der Entrechlichung und der Marginalisierung. Sie rufen unreflektierte Shitstorms ins Leben, empören sich, ohne sich vorher eingehend darüber Gedanken gemacht zu haben. Sie sind vollgepumpt mit ihnen verabreichten Emotionen und bauen darauf ihr Rechtsempfinden auf. Eines ohne Maß und Ziel, ein selbstgerechtes Empfinden, das Arroganz von Angeklagten anmahnt oder die zur Hatz auf Sexualstraftäter aufruft.
Man muss ja keine geistig-moralische Nähe zur Zschäpe haben, um die Berichterstattung und die daraus entstehende empörte Öffentlichkeit als überzogen, als diabolisierend zu kritisieren, sich letztlich zu ihrem advocatus diaboli zu machen. Das totalitäre Weltbild der bürgerlichen Mitte und der bürgerlichen Medien, die sich ordentlich boulevardisiert haben in den letzten Jahren, ist mindestens genauso, wenn nicht sogar gefährlicher als jene Typen, die ich schon mal verteidigte. Denn wer, wenn nicht diese "anständigen Leute aus der Mitte", sind die Basis einer Gesellschaft, in der rechtsstaatliche Prämissen immer mehr als störend empfunden werden, in der der Beweis die Schuld ausmacht und nicht das dumpfe Gefühl in der Magengegend eines Spießbürgers?
Im Kachelmann-Prozess hatte die Öffentlichkeit die Unschuldsvermutung aufgegeben und nichts dabei befunden. Es galt als chic und juristisch nicht fahrlässig, ihn ohne konkreten Beweis als Vergewaltiger zu diffamieren. Mir ist der Mann nicht sympathisch gewesen, hatte er doch auch mal eine Weile Propaganda für die Neue Soziale Marktwirtschaft gemacht und für Deregulierung des Arbeitsmarktes geschwärmt – aber ich habe ein Faible für den aufgeklärten und unaufgeregten Rechtsstaat. Ebenso hegte ich nie besondere Sympathie für die potenziellen Sexualstraftäter, die Frau Guttenberg jagte. Aber zur Straftat aufzufordern, wie es in ihrer damaligen Show auf RTL II geschah, ist nun mal nicht rechtsstaatlich.
Der Totalitarismus des Spießbürgertums kennt da keine rechtsstaatliche Korrektheit. Er ist es, der mir manchmal gesellschaftszersetzender scheint, als alle Rassisten, Sexualstraftäter oder Terroristen zusammengenommen, denn er legt den Grundstein für diese "ganz großen Verbrechen". Und er gibt sich den Anstrich ethischer Unantastbarkeit. Er will ja nur das Gute, dafür kann man auch mal ein Auge zudrücken. Und er glaubt zudem, dass bestimmte rechtsstaatliche Normen nichts als gutmenschliches Talmi sind. Ich denke da an Til Schweiger, wie er einst Sexualstraftätern die Menschenrechte aberkannt sehen wollte und Zuspruch bekam.
Und ich muss mich indes ärgern, weil ich zunehmend Gestalten „in Schutz“ nehmen muss, die ich gar nicht in Schutz nehmen will. Dummes Gerechtigkeitsgefühl, das mich ins Spiel des divide et impera einstimmen läßt ...

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