Ich bin die Tante

Nun ja, eigentlich bin ich sie bereits seit dreiundzwanzig Jahren.

Zuerst war ich die Tante, die ihre Neffen und Nichten so “unglaublich süüüüüüüüüüüüss” fand, dass sie auf dem Pausenhof Bilder von ihnen herumreichte und Klassenkameraden mit Geschichten über sonntägliche Spiele mit imaginären Füchslein langweilte.

Bald darauf war ich die Tante, die jederzeit bereit war zum Babysitten. Weil sie die Kleinen so abgöttisch liebte, aber auch, weil sie sich so ihr Taschengeld ein wenig aufbessern konnte.

Etwas später war ich die Tante mit dem coolen Freund, der immer so viel Spass hatte mit den Kleinen und der mitmachte bei der Aktion “Wir schenken den Kindern nicht Spielzeug, sondern Zeit”. Der coole Freund also, der in den Zoo mitkam, in den Zirkus, zum Picknick an die Aare und ins Kino.

Danach wurde ich die Tante, die heiratet und bei der die Neffen und Nichten die Ringe überreichen durften. Später dann die Tante mit dem “unglaublich süüüüüüüüüüüüüssen” Baby.

Schneller als erwartet wurde ich zur Tante mit den vielen Kindern, die alle irgendwie gleich aussehen, die an der Familienweihnachtsfeier immer so viel Radau machen und die alles ausplaudern, wenn man mit vierzehn heimlich ein Bier von den Erwachsenen klaut.

Gleichzeitig wurde ich die Tante, die immer mal froh ist um einen Babysitter, die auch gerne bereit ist dazu, ein paar Franken springen zu lassen dafür.

Ich war wohl auch die Tante, die einem peinlich war, weil sie auf der Strasse einfach nicht so tun konnte, als kenne sie einen nicht, wenn man gerade mit Freunden so richtig einen durchgeben wollte. Das hat mir zwar keiner je bestätigt, aber ich fürchte, dass mir das nicht erspart blieb. Vermutlich war ich auch die Tante, die immer so blöde Fragen stellt, die meint, sie müsse sich cool geben, obschon sie es schon längst nicht mehr ist, die sentimental wird, wenn sie sieht, wie gross man schon geworden ist. Ein paar Mal war ich aber auch die Tante, die ein offenes Ohr hatte, wenn einfach alles schief lief zu Hause.

Jetzt bin ich also die Tante, die man der Freundin oder dem Freund vorstellt, ja, sogar die Tante, welche die Verliebten am Sonntagnachmittag mit einem Besuch beglücken. Und zum ersten Mal im Leben wird mir so richtig mulmig, wenn ich daran denke, dass ich die Tante bin. Was, wenn ich die Tante bin?

Ihr wisst schon, die Tante, die immer zum falschen Zeitpunkt anruft. Die Tante, die peinliche Geschichten auftischt, wenn der Partner zum ersten Mal am Familienweihnachtsfest aufkreuzt. Die Tante, die erwartet, dass man sie nicht vergisst, dass man sie einlädt, wenn man etwas zu feiern hat. Die Tante, die Scheusslichkeiten verschenkt, zur Hochzeit zum Beispiel, oder zur Geburt des ersten Kindes. Die Tante, die kein Ende mehr findet, wenn sie anfängt, von früher zu erzählen. Die Tante, über die man herzieht, wenn sie endlich, endlich nach Hause gegangen ist. Die Tante, die sich einmischt, wenn sie das Gefühl hat, Neffe mit Partnerin oder Nichte mit Partner würden die Eltern nicht respektieren. Die Tante, die man halt ab und zu besuchen muss, weil sie sonst eingeschnappt ist. Die Tante, die einen am Ende gar aus dem Testament streicht, weil sie sich übergangen fühlt. (Nicht, dass die Tante, von der hier die Rede ist, etwas zu vererben hätte.) Die Tante, die allzu freigiebig ist mit Ratschlägen aller Art. Die Tante eben, die einfach nur nervt.

Nun, ich gebe mir alle Mühe der Welt, nicht zu dieser Tante zu werden, ich tue mein Bestes, um die Tante zu sein, mit der man auch als Erwachsener noch gerne Zeit verbringt. Ich fürchte nur, dass aus diesem Bemühen ein “Trying too hard” werden könnte und dann wäre ich am Ende eben doch die Tante.

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