Jeden morgen darf ich in der Bahn an Dramen, Tragödien und Komödien meiner Mitmenschen teilhaben. Mein Nahverkehrsticket ist gar kein Ticket für den Transport von Köln nach Düsseldorf, sondern die Eintrittsticket zu dieser täglich wechselnden Show. Heute spielte sich folgender komödiantischer Dialog neben mir ab:
Männlicher Begleiter erklärt seiner weiblichem Begleitung, dem Aussehen und Alter nach eine eine Tante oder vielleicht sogar die Mutter: „Mit freundlichem Gruß ist die unhöfliche Variante von Mit freundlichen Grüßen!“
Erschütterung bricht aus! Welch grober Verstoß gegen die Etikette hier nun aufgedeckt wurde!Auch zwei weiteren älteren Damen in der Sitzgruppe packt die Angst. „Aber ich schreibe immer ‚Mit freundlichem Gruß‘! Immer!“ Der Schock sitzt scheinbar tief darüber, ein Leben lang einen Fehler nicht nur begangen, sondern kontinuierlich, unwissend wiederholt zu haben. Um den Affront der vergangenen Briefe und Emails wett zu machen, wird nun die Unschuld wegen Unwissenheit in scheinbarer Endlosschleife (ich bin zwischenzeitlich an meiner Haltestelle angekommen und ausgestiegen) wieder und wieder beteuert. „Ja, mit freundlichem Gruß ist die unhöfliche Form!“ – „Aber nein, aber das hab ich doch immer so gemacht.“ – „Ja, aber das ist die böse Variante.“ – „Oh Gott, doch das schreibe ich doch immer so.“ – „Ja, aber das ist eben sehr unnett.“…. usw. etc. pp. und der Dialog dreht sich, dreht sich, dreht sich…
Doch ganz Unrecht hatten sie nicht. Eine fehlende oder zu kurze An- bzw. in diesem Fall Abrede ist auch in Zeiten von „Ey Alter!“ wichtig für das friedliche Zusammenleben. Und kaum im Büro angekommen, erfuhr ich nochmals, wie wichtig es ist, in bestimmten Formeln miteinander umzugehen. Dabei ist eine Formulierung auf dem Vormarsch, die Freundschaft vermitteln soll, bei mir aber den Drang weckt, mit ganz und gar unhöflichen Worten um mich zu schreien.
Zurück geht diese gefreundschaftelnde Getue auf psychologische Studien, die behaupten, Menschen fänden ihr Gegenüber sofort sympathischer, wenn sie von diesem mit dem eigenen Namen angesprochen würden. So beginnt mein Kollege JEDEN Satz, jede SMS und jede Email an mich mit „Juliane,…“. Leider bleibt der sympathisierende Effekt bei mir aus. Selbst wenn mir genannter Kollege, der eigentlich tatsächlich sympathisch ist, anbietet meine Arbeit zu übernehmen oder mir Kaffee zu holen.
Vielleicht bin ich immun oder allergisch gegen meinen vollausgesprochenen Vornamen. Ich bin gegen vieles allergisch: Nüsse, Soja, Getreide, Dummheit, Männer mit Mundgeruch. Juliane hier und Juliane da, führt augenblicklich zum Nein. Denn ich komme noch aus der Zeit vor diesen bahnbrechenden Erkenntnissen, in der nur Eltern diese Wort-Satz-Stellung nutzten, um mich bei Verstößen gegen die Höflichkeit zu ermahnen. Beispiel: „Juliane, trink nicht so viel! Juliane, du hattest schon zwei Flaschen.“
Niemals verwendet jemand, mit dem ich wirklich befreundet bin, meinen vollständigen Vornamen. Mit freundlichem Gruß habe ich dagegen aber schon des Öfteren unter Briefen gelesen und dachte dabei nichts Böses. In der Bahn wird man manchmal also doch schlauer und skeptischer in Hinblick auf die Freundlichkeit Anderer.