Und es schmilzt ist ein Buch, das ganz unterschiedlich gelesen und aufgenommen wird. Wir Bücherfreundinnen Maria von der Buchhandlung ocelot, die Klappentexterin und ich haben bei einem Aperol Spritz ganz ungezwungen darüber geredet. Es fielen Worte wie krass, schmerzhaft, schrecklich und trostlos. Aber auch irre gut, grandios, klug, würdig und lebensweise.
Auch wenn wir keinen gemeinsamen Nenner finden konnten, war unser gemeinsames Fazit, dass es ein gutes Buch ist, das seinen Weg gehen wird. Weil Lize Spit bestechend gut erzählt und die Tristesse eines Lebens auf dem Land sowie das Gefühl, ein Außenseiter zu sein, mit überraschenden Metaphern beschreibt.
Ich war nicht einmal ein fünftes Rad, sondern das im Kofferraum gut verstaute Reserverad, von dem man hoffte, es nie herausholen zu müssen (Seite 375).
Als Eve diesen Satz denkt, springt die Einsamkeit mich förmlich an. Lize Spit verliert sich nicht in langatmigen Beschreibungen von Alleinsein und Schmerz. Oft ist es wirklich ein einziger Satz, in welchem sich die gesamte Ödnis der Kindheit in jenem Kaff Bovenmeer offenbart. Ein treffendes Bild ist das mit der unsäglichen Affenkopfwurst. Es ist Abendbrotzeit. Die Geschwister Tesje und Jolan sitzen am Tisch, Eve schaut durch das Fenster auf die Szene:
... in der Tischmitte die Butterdose, Mama schief auf ihrem Stuhl hängend, drei Sorten Belag schön ausgebreitet auf einem Holzbrett, Ringwurst, Käse und Affenkopfwurst (Seite 111/112).
Doch Lize Spit erzählt auch von der Frau, die Eve heute ist, und die einer Einladung nach Bovenmeer folgt, um in den Ort ihrer Kindheit zurück zu fahren. Besonders raffiniert finde ich, dass in jeder der erzählten Szenen des Romans die Zeit unterschiedlich schnell vergeht. Mal ist man in jenem unendlich langsam vergehenden Sommer 2002, dann wieder für wenige rasende Minuten mit Eve im Auto und in der Gegenwart. Da wird eine ungeheure Spannung erzeugt! Hier und jetzt die junge Eve mit ihrem Eisblock im Auto (dazu die Frage, was sie mit diesem riesigen Eisblock plant). Und dann wieder drei Monate Sommer, in denen man nicht nur spürt, dass hier etwas ganz Düsteres passieren wird, sondern dass alles irgendwie miteinander zu tun hat.
Lize Spit hat kein Wohlfühlbuch geschrieben. Aber genau deshalb mochte ich es so sehr. Am Ende unseres Talks fällt mir noch ein Vergleich mit Oskar Roehler ein, dessen Bücher ich auch verdammt gern lese. Es gibt einfach Autoren, die vielleicht bewusst gar nicht gefällig schreiben, ihre Leser aber gern überraschen, provozieren und eventuell auch schocken wollen. Autor*innen, die ich in dieser Liga sehe und die ich ebenfalls sehr schätze sind Amélie Nothomb, Virginie Despentes und Michel Houellebecq.
Schließlich haben wir drei uns noch gefragt, ob wir Und es schmilzt ein zweites Mal lesen könnten und wie viele Punkte wir dem Buch auf einer Skala von 1-10 geben würden. Da war ich dann aber doch von den beiden überrascht! Und hier geht's zum Talk bei der Klappentexterin →
Lize Spit. Und es schmilzt. Aus dem Niederländischen von Helga von Beuningen. S. Fischer Verlag GmbH. Frankfurt am Main. 2017. 505 Seiten. 22 €