Herta Müller. Atemschaukel

Herta Müller. AtemschaukelIn den vergangenen Tagen haben wir besonders intensiv an Auschwitz und an die Befreiung des Lagers am 27. Januar 1945 gedacht.
Ein weiteres trauriges Kapitel in der Geschichte Europas hat sich ebenfalls vor 75 Jahren ereignet – unzählige Kilometer entfernt im tiefsten Osten der ehemaligen Sowjetunion. Wieder rollten Güterzüge voller Menschen in Lager zur Zwangsarbeit in die Ukraine und den Ural. Diesmal auf Anweisung Stalins.
Herta Müller erzählt darüber in ihrem Roman Atemschaukel  in atemberaubenden und sprachgewaltigen Bildern. Unzählige dunkle Stunden verbringe ich in meiner warmen Wohnung, stumm und voller Demut lausche ich der Stimme von Ulrich Matthes, der eindringlich und grandios diesen Roman liest.

Ich-Erzähler Leo ist 17 Jahre alt, als ihn die Russen am 15. Januar 1945 abholen. Draußen hat es –15 ºC. Der Schnee glitzert in der Dunkelheit. Gemeinsam mit vielen Männern und Frauen aus seiner Heimatstadt im rumänischen Siebenbürgen wird Leo in den Güterzug getrieben. Wo geht es hin? Niemand weiß das. Auch Leo ist komplett ahnungslos und sogar ein wenig erleichtert. Wenigstens muss er nicht an die Front! Alles ist ihm Recht, nur fort aus dem Fingerhut der Stadt. Viel nimmt er nicht mit. Ein wenig Kleidung, ein paar Bücher. Aber keine Romane, denn Romane liest man nur einmal, dann nie wieder. Also muss Goethes Faust mit, Nietzsches Zarathustra, ein Lyrikband. Wird er die Bücher lesen in den fünf Jahren Lagerhaft? Darüber erzählt Herta Müller nichts, doch über Hunger, Schwerstarbeit und grausame Behandlung der Gefangenen durch die russischen Kapos. Für sie waren die Rumäniendeutschen aus dem Banat und aus Siebenbürgen potentielle Staatsfeinde und Hitlerfreunde.
Doch auch von kleinen besonderen Momenten erzählt Herta Müller. Vom Besuch beim Barbier an jedem Samstag, vom Grillen geklauter Kartoffeln. Es berührt zutiefst, wie irgendwie alle versuchen, Mensch zu bleiben. Da schleicht sich noch in die grausamste Szene ein wenig Poesie, manchmal sogar Humor.
Es sind dieser einzigartige Erzählton und die unverwechselbare Stimme Herta Müllers, die uns das eigentlich Unsagbare ertragen lassen.

Und so brennen sich Worte wie Hungerengel und Herzschaufel unweigerlich ins Gedächtnis. Auch Sätze wie Es schneite Eisnägel in dem Regen oder Ich zog mir die Suppe ins Herz. Es ist nur eine schäbige Krautsuppe, aber sie ist das ersehnte Highlight des Tages. Jeder Löffel Suppe wird zu einem Blechkuss.

Für Atemschaukel hat Herta Müller Gespräche mit dem Lyriker Oskar Pastior sowie weiteren Überlebenden der sowjetischen Lager geführt. Diesen Roman zu lesen bzw. zu hören, hat für mich eine enorme Bedeutung. Nicht nur wegen seiner hohen literarischen Qualität, sondern auch wegen seines mahnenden Inhalts und der Tatsache, was totalitäre Systeme mit den Menschen machen.
Aktuelle Lektüre ist deshalb György Dragomán mit seinem Roman Der Scheiterhaufen. Bereit liegen außerdem Gelobtes Land. Meine Jahre in der Sowjetunion von Wolfgang Ruge und Herztier von Herta Müller. Eigentlich kann ich nie genug dazu lesen. Denn es ist eine traurige Wahrheit, dass auch heute wieder Menschen verfolgt oder eingesperrt werden – egal ob aus politischen, religiösen oder ethnischen Gründen.

2009 hat Herta Müller den Nobelpreis für Literatur bekommen.

Herta Müller. Atemschaukel. Gelesen von Ulrich Matthes. Hörbuch Hamburg 2009.
Hardcover Carl Hanser Verlag München, 2009. Fischer Taschenbuch 2011. Auch als eBook, ePub.


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