“Die ganze Welt hat sich in ein Negativ ihrer selbst verwandelt. […]. Auch mein Bild hat sich verkehrt. Alles, was ich gut an ihm fand, ist jetzt ein unübersehbarer Mangel, alles, was für seine Authentizität sprach, beweist jetzt, dass es gefälscht ist.”
Michael Frayn: “Das verschollene Bild/Headlong”, ins Deutsche übersetzt von Matthias Fienbork, 1999
Kate und Martin Clay ziehen aufs Land. Er, um abseits der Ablenkungen Londons seine Studie über den Nominalismus abschließen zu können, sie, um nach der Geburt der Tochter wieder Tritt zu fassen – und um über ihren Gatten zu wachen. Denn Martin braucht Bewachung – dazu Stille, Ruhe und Schweigen. Alles, was ablenken kann, wird ablenken, das weiß Kate, denn ihr Mann ist von “abtrünnigem Charakter”, eine Zug, der ihn seit Jahren plagt und mit Begeisterung zwar vieles beginnen, wenig jedoch zu Ende führen lässt.
Ikonographie (griech.), Bedeutungslehre (Kunst-Wiss.), die einzelne Dinge wie auch Formen, Farben und Zahlen beschreibt und als Inhalte (Symbole ) erschließt.
Doch das bukolische Glück stellt sich nicht ein. Es ist März und es regnet auf dem Land, die einjährige Beurlaubung neigt sich ihrem Ende entgegen. Das universitäre Dozententum wirft graue Schatten voraus und Martin läuft nicht allein darob der Schauder über den Rücken: er hat den Roten Faden für sein Buch verloren. Also sucht er nach Ablenkung, nach einem neuen Ziel, zu dem hin es ihn abtrünnig werden lassen könnte. Eine neue Aufgabe, deren Aufnahme den Abbruch der gegenwärtigen wenn nicht entschuldigen, so doch hinreichend begründen würde. Und er findet sie, wo er niemals hätte suchen wollen: mitten im english country life.
Ikonologie (griech. eikon = Abbild, logos = Wort), Wissenschaft vom Sinngehalt der Malkunst, besonders von den Attributen und Symbolen der Götter-, Heroen- und Heiligengestalten.
Martin entdeckt während eines Besuches beim Nachbarn mehrere Gemälde und meint, unter den arglosen Blicken ihres Besitzers, Tony Churt, einen echten und bislang unbekannten Bruegel entdeckt zu haben. Kate widerspricht, als Ikonographin ist sie Fachfrau in diesem Feld. Zu deutlich widersprächen die abgebildeten Situationen und Figuren des unsignierten Gemäldes “Pretmakers in een Berglandchap” (Spaßmacher in einer Berglandschaft) den im 16. Jahrhundert üblichen Gepflogenheiten.
Erwin Panofsky, Gottvater des Ikonischen
Es ist die Dozentin, die spricht und sie nimmt die Bilder als das, was sie sind. Sie ordnet sie ein den wissenschaftlichen Erkenntnissen gemäß. Ein unbekanntes Gemälde Pieter Bruegels? Da muss ihr Mann, der auf diesem Gebiet nur über rudimentäres Wissen verfügt, sich irren. Falsch wird er recherchiert haben und den Standardwerken zu geringe Beachtung geschenkt haben. Doch der entkräftet alle Mäkelei und bewahrt sich den Traum vom “Millionen-Dollar-Fund”, der ihn in die Ruhmeshallen der Kunstwissenschaft katapultieren würde, und sophistisch weiß er einzuwenden,”dass die wahre Bedeutung das Gegenteil von dem sein kann, was man sieht”: Martin Clay ist in ihrer Ehe der Ikonologe. Fortan sind in Michael Frayns intelligentem Roman die Gleise gelegt: die Lokomotiven brechen durch den Dampf und schießen aufeinander zu. Dass dabei ein ganzes Schienennetz entsteht und ober- und unterirdische Bahnen verlaufen, ohne dass es auf den über 350 Seiten zu einem Zusammenstoß kommt, ist der Meisterschaft eines Autors zuzuschreiben, der bescheiden zurücktritt und seinen Figuren Tempo und Fahrtrichtung überlässt. Nichts ist mehr das, was es zu sein scheint. Jeder Satz, jedes Lächeln und jede Freude mag auch ihr Gegenteil bedeuten. Wie ein Bild mannigfach interpretiert werden kann, so muss von nun an auch Martin Clays Verhalten mehrdeutig und schleierhaft werden, will er dem bauernschlauen Nachbarn den vermeintlichen Bruegel abluchsen, die eigene Frau über das erneute wissenschaftliche Versagen täuschen und ohne, dass jemand vom möglichen Jahrhundertfund erfährt, die Rechnung ohne die vielen Wirte des Romans machen. Wie er das anstellt? Schlicht und einfach immer das Gegenteil von dem behaupten und tun, was er tatsächlich im Schilde führt.
“Plötzlich fühle ich mich so ungerecht behandelt wie die Jäger im Schnee […]. Sie hätten nicht auf die Jagd gehen sollen, sondern zu Hause bleiben und sich um die Kinder kümmern und Bücher über den Nominalismus schreiben sollen.”
Da Frayn als begnadeter Dramaturg und Beobachter der Menschen weiß, was zu tun und auch was zu unterlassen ist, führt er das nach wenigen Seiten ansetzende Scharadenspiel bis zum Gipfel und lässt gegen Ende Jäger und Gejagte erschöpft heimkehren und ihre Wunden lecken.
”Natürlich gibt es in all meinen Stücken ein philosophisches Fundament, aber ich hoffe sehr, dass es auch diesmal niemand bemerken wird.”
Pieter Brueghel: Heimkehr der Jäger - eine Kopie...
Wer eine Botschaft zu vermitteln habe, sagte schon Polanski, möge sie gefälligst in einen Briefumschlag stecken und zur Post tragen, aber nicht in die Kunst tragen und anderen auf die Nerven gehen. Michael Frayn geht niemandem auf die Nerven. Die 357 Seiten des Romans sind voll der Philosophie und europäischen Geistesgeschichte und der ehemalige Kolumnist und gelernte Dramatiker versteht es, die Schnüre so zu führen, um Leser wie Kritiker zu fesseln, zu belehren und aufs Höchste zu unterhalten. Die Figuren verfügen passend zum Sujet der sich auflösenden Historie über keine eigene Geschichte. Die kleineren Details, die genannt werden, stecken grob einen persönlichen Kontext ab; mehr tun sie nicht und mehr brauchen sie nicht zu tun. Das Kunststück, Menschen in einem Roman handeln zu lassen, gelingt. Was sie denken, tun und unterlassen wirkt schlüssig von der ersten Bekanntschaft an, ohne dass Herkunft, Biographie oder Kindheitstraumata näher zu interessieren hätten. Wichtig ist, was auf “den Brettern” geschieht. Frayn berichtet oder theoretisiert nicht. Martin, Kate, Laura und Tony geschehen im Moment der Handlung. Hier gelingt Prosa und übersteigt den oft beengenden Rahmen des Nachtragens, Berichtens und Erklärens. Frayn hat ausreichend Vertrauen in die Stärke der Figuren besessen und das ist ein Glücksfall für den Leser. Dennoch mischt der Autor sich bisweilen ein und spricht durch Martin Clay, lässt den schriftstellernden Kunsthistoriker zu inneren Monologen anheben, die einerseits seinen gegenwärtigen Kampf um das vermeintliche Bruegel-Gemälde abbilden, andererseits den historischen Kontext wiedergeben, in welcher der Maler zu leben und arbeiten hatte.
So fließt Bruegels Vita ein und die ist spannend. Eingezwängt von der Grausamkeit der niederländischen Protestanten und der spanischen Gegenreformation, entschied sich der Künstler für die Seite der Mächtigen, beuget das Knie vor den herrschenden Abgesandten Karls V. und Phillips II. und malte seine Bilder und hatte ein Auskommen. Oder verhält es sich anders? War Pieter Bruegel nicht der Kollaborateur, der er aus der Sicht des 20. Jahrhunderts zu sein scheint? Hat er die Nähe und den Schutz der spanischen Prätendenten dazu genutzt, auf der Leinwand Rebellion zu betreiben und neigte er tatsächlich der protestantischen Seite zu? Wie Martin Clay über die Biographie des Malers versucht, Hinweise dafür zu finden, die das entdeckte Gemälde zu einem “verschollenen” Bruegel machen würden, tritt immer deutlicher zu Tage, dass in der Vergangenheit nichts als Dunkelheit liegt und sie mit keiner noch so raffinierten Lampe erhellt werden kann. Wie er mal der einen Quelle zuneigt, jene bald darauf unter Zuhilfenahme eines anderen Fundstückes wieder entkräftet und ihre Autorität und Glaubwürdigkeit untergräbt, um wieder zu besser gelegenen ersten Prämisse zurückzukehren, das ist herrlich zu lesen und noch wunderbarer mitzudenken.
“Die ganze Welt hat sich in ein Negativ ihrer selbst verwandelt. […]. Auch mein Bild hat sich verkehrt. Alles, was ich gut an ihm fand, ist jetzt ein unübersehbarer Mangel, alles, was für seine Authentizität sprach, beweist jetzt, dass es gefälscht ist.”
Im Schwanken und Lavieren der Figur personifiziert der Autor das Dilemma der Geschichtswissenschaft und dekonstruiert genüsslich ihren teilweise immer noch vorgetragenen Wahrhaftigkeitsanspruch, denn nichts ist hier wahr oder bewiesen, alles bleibt “menschlich fehlerhaft” und richtet sich aus nach den Wünschen des Forschers. Was dieser zu finden hofft, das wird eilfertig mit Quellen belegt. Zitate und Autoritäten werden herangezogen und im nächsten Moment wieder umgestoßen, wenn Laune oder ein schlechter Traum das Fähnchen des Instinkts in eine andere Richtung treiben. Lakonie und kühle Selbstironie heben den Ich-Erzähler heraus und wecken Empathie wie Reflexion beim Leser. So darf händeringend gehofft werden, dass mehr der Fraynschen Prosa und Dramatik ins Deutsche übersetzt werde.
Bruten Butterwek