Jetzt stand das kleine Mädchen mitten im Raum und schaute neugierig in die überfüllte Runde. Sie wirkte nervös, ihre Hände schwingen unkontrolliert mal nach rechts und dann nach links. Sie wusste nicht wohin. Die Spannung in ihr wurde Sekunde um Sekunde größer. Es waren so viele neue Gesichter, unvertraut und fremd. Sie versuchte ruhig zu stehen und an die Worte ihrer Mutter zu denken. Sie sollte keine Angst haben, sie würde sich schnell an ihre neue Klasse gewöhnen, neue Freunde finden. Aber das wollte sie doch gar nicht. Sie hatte doch ihre Freunde zuhause. Zuhause. Weit weg von dem Ort, wo sie sich jetzt befand. “Ecrin ist eure neue Mitschülerin. Ich möchte, dass ihr sie nett begrüßt und sie kennenlernt. Sie ist jetzt wie ihr alle ein Teil dieser Klasse. Setz dich Ecrin.” Ecrin setzte sich an den leeren Platz in der hinteren Reihe neben ein blondes Mädchen, was ihr zulächelte und Platz machte. Nachdem sie sich setzte fühlte sie sich befreit von den Blicken, sie atmete tief durch. “Hallo Ecrin, ich bin Melissa. Woher kommst du? Wo ist deine Heimat?” Woher kam Ecrin, wo war denn jetzt ihr Zuhause. Sie versuchte auf die Frage zu antworten. Es war wie eine Matheaufgabe, die sie nicht lösen konnte. Sie wusste es nicht. Sie wusste nicht, wo sie hingehörte. Das Gefühl der Peinlichkeit überkam ihr. Sie wollte nur noch weg. Ganz weit weg, wo sie keiner finden und Fragen stellen würde.
Heimat. Was bedeutet Heimat eigentlich? Kann ein Ort Heimat sein, in dem verschiedene Kulturen aufeinander prallen und die Sprache des Landes neu erlernt werden muss? Wie sieht ein Leben zwischen zwei Stühlen aus?
Im Hinblick auf das Zugehörigkeitsgefühl haben Migrantenkinder erhebliche Probleme zu bewältigen. Sie beherrschen weder die Sprache ihrer Eltern, noch die des Landes, in dem sie leben, auf dem Niveau „normaler“ Muttersprachler.
Dabei ist Sprache ein unverzichtbares Instrument. Sprache ist der Schlüssel zum Erfolg und das Tor zur Bildung. Das heißt, dass Migrantenkinder, die gut deutsch sprechen können, viel bessere Chancen in der Schule haben, als die mit schwächeren Deutschkenntnissen.
Drittkulturkinder wachsen in einem Leben mit Konsequenzen auf, welche sie oft nicht selbst wahrnehmen. Beobachtet man solche Kinder untereinander, so lässt sich nicht gleich raus hören, welche Sprache sie sprechen. Es ist eine Mischsprache, die sich aus den verschiedenen Sprachen zusammensetzt.
Migrantenkinder, welche sich mit keiner der beiden Kulturen identifizieren können, haben ganz individuell eine neue Sprache entwickelt, die ihre eigene Sprache ist.
So sind Sätze, die auf Deutsch anfangen und in einer anderen Sprache enden, keine Seltenheit. Sie haben Angst auf neue Kontakte zuzugehen, diese offen anzusprechen. Sie wissen ja selber noch nicht, woher sie kommen. Wie soll man da ein Gespräch anfangen? Die Angst ausgelacht und nicht akzeptiert zu werden überwiegt bei jedem Mal bis sie auf einen Menschen treffen, der genauso wenig über seine Herkunft, Identität weiß, wie sie selbst.
Das Gefühl „akzeptiert“ und „anerkannt“ zu werden, verleiht diesen Kindern eine Identität, die ihnen vorher gefehlt hat. Sie fühlen sich nun verstanden und zugehörig. Denn die Sprache ist das Mittel zur Verständigung, zum Austausch und zum Zusammenleben. Dadurch wird innerhalb der Migrantenkinder eine Insel der Vertrautheit erzeugt. Diese verurteilende Haltung ist oftmals ein Identifikationspunkt mit anderen Drittkulturkindern. Dieses Merkmal, dass sie von anderen unterscheidet, führt dazu, dass die Sprache des Landes, in dem sie leben, in Vergessenheit gerät. Die Defizite häufen sich über die Zeit immer mehr an und machen das Erlernen dieser Sprache schwieriger. Natürlich darf nicht vergessen werden, dass das Leben zwischen zwei Stühlen auch Vorteile hat. Drittkulturkinder besitzen oft die Fähigkeit sich in verschiedenen Kulturen leichter als andere Menschen zurechtzufinden, weil sie in ihrer Kindheit die Möglichkeit hatten, eine große Vielfalt an Kulturen kennenzulernen. Es fällt ihnen in der Zukunft leichter, sich anzupassen, auf andere Menschen zuzugehen und Kontakte zu knüpfen. Trotz dieser Erkenntnis ist die Frage, wo nun die Heimat dieser Drittkulturkinder ist, unumgänglich. Für diese Kinder erwächst ein Gefühl überall und nirgends zugleich hinzugehören. Eines haben diese Kinder fast alle gemeinsam. Auf die Frage, wo ihre Heimat ist, antworten sie alle anders oder garnicht. Vielmehr versuchen die diesen Begriff der Heimat zu umschreiben. Sie sind meist irritiert, da sie sich ihrer „Andersartigkeit“ lange nicht bewusst sind. Sie werden förmlich durch diese Frage erst richtig zu Fremden gemacht. Sie fühlen sich nicht anerkannt und fremd im eigenen Land, weil sie sich nicht so ausdrücken können, wie andere in ihrem Alter. Manchmal wird diese Frage mit Beziehungen zu bestimmen Menschen beantwortet. Viele Migrantenkinder berichten von einem Gefühl der Wurzellosigkeit. Wurzellosigkeit kann die Suche nach der eigenen Identität erschweren.
Heimat ist ein Gefühlszustand von Geborgenheit, Vertrautheit und Übereinstimmung. Es ist das Gegenteil der Fremde. Es ist der Wunsch einer Gemeinschaft zuzugehören, egal welche Sprache man spricht und wie gut man sie spricht. Jedes einzelne Individuum bestimmt für sich selbst was Heimat für sie bedeutet.
Für einige bedeutet Heimat der Ort, in dem die Familie und Freunde leben und für sie immer da sind. Also wird Heimat als Mittelpunkt des Lebens eingesehen und als Ort betrachtet, in dem die vertraute Menschen sind. Andere jedoch sind der Meinung, dass Heimat der Ort ist, an dem man sich wohl fühlt und auch die Natur, das Land, die Stadt und das Viertel, in dem sie aufgewachsen sind.
Manche Menschen können sogar den Geruch eines Kuchens, den die Oma gebacken hat, als Heimatsgefühl bezeichnen. Jedem von uns hilft es sagen zu können, woher wir kommen. Kinder, die in mehrehren Kulturen und Sprachen aufgewachsen sind, sind hin und her gerissen zwischen diesen Welten. Sie stehen unter einem sozialen Druck, sowohl durch die Eltern, als auch durch die Gesellschaft, in der sie leben. Die Eltern erwarten, dass ihre Kinder das ihnen Vertraute nicht verlieren und nicht anders werden, als sie selbst. Sie haben Angst ihre Kinder in dem Ort zu verlieren, an den sie kamen, um zu arbeiten und anschließend zurückzukehren. Die Gesellschaft, in der sie leben, fordert wiederum eine Assimilation der Eltern, die sie dann als gelungene Integration bezeichnen. Wobei es vielleicht viel leichter für diese Kinder wäre, wenn die Gesellschaft stärker auf die Gewohnheiten und Besonderheiten der Migrantenkinder Rücksicht nehmen würden.
Ihnen fällt es schwer, ihre persönliche Identität klar zu definieren. Das daraus resultierende Heimatlosigkeitsgefühl tritt meistens dann auf, wenn die Kinder mit der Frage „Woher kommst Du?“ konfrontiert werden, wie Ecrin.
Es müsste ein Land geben, dass „ Ausland“ heißt, in dem jeder die Sprache spricht, die er beherrscht. Es wäre Heimat für diejenigen, wie Ecrin, die durch die Gesellschaft heimatlos wurden.