Heimat

Über Heimat wird gerade viel geschrieben und geredet. Dies nicht erst seit der Sache mit den Flüchtenden, eigentlich in Deutschland schon lange, seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Und trotzdem hat „Heimat“ im Moment einen echten Hype, ist ein hot topic. Sogar in der hiesigen Kreissparkasse gibt es eine Ausstellung dazu, es werden die Flüchtenden der letzten Kriege, der Völkerwanderungen aus dem Osten Europas, die Ströme der „Gastarbeiter“ in den Sechzigern denen von heute gegenüber- eher nebeneinandergestellt. Und das tut gut, denn es klärt die Prespektive.This little piggy went to market...

Fragt man die Leute, was Heimat ist – denn das wird in diesem Zusammenhang immer getan – kommen die üblichen verdächtigen Antworten von Natur, Familie, Gerüchen, Essen, Grundwerten, Haus und Hof. Für mich selbst definiere ich Heimat als die Stelle, wo meine Familie lebt, also ich, meine Frau und meine Kinder. Meine Ursprungsfamilie ist des öfteren umgezogen, deshalb habe ich keine wirklich Bindung zu bestimmten Orten, in denen wir damals gewohnt haben, auch wenn die Stadt meiner Einschulung vielleicht einen Hauch von nostalgischer Heimat hat. Aber jeder darf das für sich definieren.

Die Familie, von der eigentlich die Rede sein soll, hat schon viele Orte besucht, jetzt sind sie in unserer Stadt, vor einem dreiviertel Jahr ist sie über die Balkanroute gekommen. Ich habe ihre Kinder untersucht im Rahmen des hiesigen „Flüchtlings-Untersuchungs-Kinder-Konzeptes“. Don´t ask. So selbstgestrickt wie vielerorten.Ein freundlicher Dolmetscher ist mit dabei, ich kenne ihn wie die geflüchteten Familien, die bei uns in der Stadt leben und die sich in meine Praxis verirrt haben. Manchmal scheitert die Übersetzung, an den zu vielen Dialekten dieser Welt, manchmal an Unaussprechlichem oder Nichtübersetzbarem.

Die beiden Kinder sind krank, sehr krank. Kaum eine deutsche Familie würde sich auf so weite Wege machen mit so kranken Kindern. Vielleicht dass wir einen Spezialisten in Hamburg aufsuchten, mit dem Zug fahren, freundlich die Kosten abgenickt von unserer Krankenkasse. Aber sie, sie sind seit über vier Jahren unterwegs, mal ins Nachbarland, dann über die Meerenge auf einen anderen Kontinent, dann dank vieler medizinischer Verheißungen, schlitzohriger Schleusern und viel Geld an Grenzzäunen entlang nach Deutschland, dem europäischen Land, dem Land der Hoffnung für ihre Kinder.

Nach der mühsamen Erstanamnese und Untersuchung der Kinder, nach dem Aufdröseln der Reiserouten, der Behandlungsversuche hier und dort, mit Operationen und Therapiekonzepten, so vielfältig wie die Sprachen und die Länder, gelangen die Eltern und ich zusammen mit dem Dolmetscher zu persönlicheren Sachen. Wie es Vater und Mutter geht, dem Paar, wie den Großeltern, da“heim“ gelassen, wie das Haus aussah, ihr Garten, als die Kinder noch klein war, gerade geboren, ohne Sorge auf die Zukunft und Veränderungen an Gesundheit, dem Land und ihrem Leben.

Also habe ich genauso die Frage gestellt, was denn nun für sie eine Heimat sei. Ich hatte alles vermutet, ähnliche Antworten wie, wo „das Kinderbett steht“ oder „unsere eigenen Eltern leben“ oder die Brüder und Schwestern der Eltern jetzt noch sind. Was der Vater schließlich sagte, natürlich mühsam zusammengesetzt durch die Künste des Übersetzers? „Wissen Sie, Herr Doktor, Heimat ist für uns nicht so etwas wie ein Haus oder ein leckeres Essen, nicht so etwas wie der Ort von Zufriedenheit, Glück und Frieden.“

Und mit einem Blick, der genau dies aussprach, bevor der Dolmetscher die richtigen Worte fand: „Heimat ist für uns der Ort, an dem unseren Kindern geholfen wird.“

(c) Bild bei Flickr/Sarah Horrigan, under Creative Commons


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