Tap - kling - tap - kling sind meine Schritte runter zur U-Bahn, das "Kling" verursacht durch eine lose Schnalle an meinen Stiefeln, das "Tap" durch meinen wenig graziösen Gang. "Heute Abend muss ich endlich was mit dieser Schnalle machen", ist einer meiner Gedanken, und: "Ich sollte mir mal einen würdevolleren Gang angewöhnen."
Döt - Piep öffnet sich das Drehkreuz, als ich mein AKBIL auf den Sensor drücke. Das Sicherheitspersonal im Gang zur Rolltreppe schaut mich gleichgültig an und hat kein Interesse, meine Tasche zu kontrollieren. Vor mir stehen breitbeinig ein paar Türken in morgendlicher Meditation versunken. "Links gehen, rechts stehen!", ärgere ich mich deutsch, bis ich zum Ende der Treppe gerollt bin. Rechts rum fährt die Metro Richtung Osmanbey und Taksim. Von der Decke hängen Bildschirme, auf denen sich wichtige Nachrichten (Ergenekon, Fußball, Wechselkurse) mit Werbesendungen im Verhältnis 1:7 abwechseln.
Wrm - Brm - Wusch kommt die Metro. Scht - klk gehen die Türen automatisch auf. Trpl - mngl - drngl stopfen sich die Menschen in die Bahn und behindern die aussteigenden Fahrgäste. Wiep - wup - wiep - wup alarmieren die Türen, bevor sie sich automatisch schließen. In der Metro warnen martialische Comiczeichnungen die Fahrgäste davor, nach dem Alarmton noch schnell in den Wagen zu springen: Ein Mann mit Aktentasche und Krawatte hat sich in der Tür verfangen und rast mit entsetztem Gesichtsausdruck seinem wenig ruhmreichen Ende an der Wand des U-Bahn-Tunnels entgegen. Ein ähnliches Plakat rät, zuerst die anderen Fahrgäste aussteigen zu lassen, bevor man selbst in die Bahn steigt. In beiden Fällen ist die Wirkung überwältigend.
"Osmanbey" sagt die elektronische Frauenstimme und ich drängle mich auf den Bahnsteig. Rechts - links - rechts die Treppe hoch - geradeaus durchs Drehkreuz - bis zum Ende des Gangs - rechts - wieder rechts - Sonne scheint - die Rolltreppe hoch - bin ich schon bei meiner Arbeit. Ich habe das Glück, nur eine Metrostation von meinem Arbeitsplatz entfernt zu wohnen. Ich muss nicht stundenlang Bus fahren, nicht von Europa nach Asien und wieder zurück, nicht in den Verkehr. Das ist wahrer Luxus in Istanbul.
"Günaydin!" sage ich im ersten Stock zu Gürcan und Orhan, die den ganzen Tag im übergroßen Empfangsraum herumsitzen und für alles zuständig sind. Ich trage meine Ankunftszeit in eine Liste ein. Zwei Stockwerke höher sind die Unterrichtsräume der Sprachschule, gleich neben dem Parteibüro der ultrarechten MHP. Davor lungern meistens ein paar Jugendliche herum und stoßen ihre Schläfen aneinander - der Gruß der MHP-Anhänger. Ich werfe ihnen ein paar giftige Blicke zu und verdrücke mich ins Lehrerzimmer. Dort notiere ich meine Unterrichtszeiten in eine weitere Liste, dann nochmal die Inhalte jeder einzelnen Stunde in eine dritte Liste, zum Schluss meine gesamte Arbeitszeit in eine vierte. Danach trinke ich erst mal einen Tee und rauche eine Zigarette.
Ich mag den Blick von der Kantine im dritten Stock auf die Cumhüriyet Caddesi (Straße der Republik), die zum Taksim, zum zentralen Platz auf der europäischen Seite Istanbuls führt. Vormittags ist alles ein bisschen staubig und ruhig, abends ist der Verkehr dicht und das "Efes"-Schild an der Kneipe gegenüber wird eingeschaltet. Es ist der Hoffnungsschimmer meiner letzten Unterrichtsstunden. Es sagt: "Nur noch drei Stunden bis zum wohlverdienten Feierabendbier!", und ich beginne den Kampf gegen das falsch verwendete past perfect von Neuem.
Hayat iste - so ist das Leben, sechs Tage die Woche, und am siebten habe ich frei. Dann fahre ich mit dem Bus auf die asiatische Seite und sitze mit Murat und Sinem im Teegarten am Ufer des Marmara-Meers. Beide sind arbeitslos und schlagen sich irgendwie durch, Murat mit Übersetzungsarbeiten, und was Sinem macht, weiß sie selbst nicht so genau. Wir blasen eine Menge Zigaretten in die Luft und starren mit melancholischen Blicken aufs Wasser, jammern ein bisschen, machen ein paar zynische Bemerkungen, und dann ist mein freier Tag wieder vorbei. Das alles ist anstrengend und höchst gewöhnlich.
Dann fahre ich mit dem Bus über die Brücke und schaue über den Bosporus bis zur Hagia Sophia ... Ich laufe bei Nacht die Istiklal entlang, Lichter und Musik und Lärm von links und rechts ... Ich stapfe in Begleitung von Straßenkötern die steile Straße hinunter nach Hause ... Ich höre den Muezzin um fünf zum Morgengebet rufen ... und fühle einen nicht unangenehmen Nervenkitzel: "Cool, ich bin in Istanbul!" Dann wird alles wieder höchst gewöhnlich und ich rolle mich auf die andere Seite, um noch zwei Stunden weiter zu schlafen.
Letztes Wochenende war ich bei Ayca zum Abendessen eingeladen. Zufrieden und müde hingen wir auf der Couch und streckten unsere Bäuche raus. Dann sagte Ayca: "Ist schon ungewöhnlich, Du als Deutsche, dass Du in der Türkei als Schwarzarbeiterin lebst." Ich nehme einen Schluck Tee und sinniere über die Bedeutung von Schwarzarbeit nach. "Stimmt!", sage ich und verziehe meinen Mund zu einem Grinsen. "Ich würde auch gerne als Schwarzarbeiterin in Deutschland leben können!", sagt Ayca sehnsüchtig. Dann bekomme ich einen Muskelkrampf im Rücken und springe auf. "Leg dich auf den Boden!", ruft Aycas Mutter. Sie fängt an, mich zu massieren. "Das ist die Lehrerkrankheit," erklärt sie mir, "alle Lehrer haben das, weil ihr ständig aufstehen müsst." Ich rolle mich auf den Rücken und starre an die kitschbestuckte Decke. Aus dem Fernseher tönt das klagende Lied einer türkischen Opernsängerin. Mein Rücken entspannt sich. Dann ist alles wieder normal.