Hart am Rande des Verfassungsbogens oder: Ich bin ein Linksradikaler, und das ist auch gut so

Ich bin linksradikal, und das ist auch gut so. – Für viele von Ihnen, die Sie in den letzten Jahren meine Texte gelesen und meine Rundfunkbeiträge gehört haben, könnte dieser Text hier schon zu Ende sein. Ja, Stimmt, werden Sie sagen und denken, dass dies aber ein kurzes Statement gewesen sei.

Aber halt: Sie haben da etwas missverstanden! – Ich mag linksradikal sein, aber ich bin es doch nicht freiwillig! Ich möchte doch ein guter Demokrat sein und bleiben, fest auf dem Boden des Grundgesetzes stehend, ein Anhänger der sozialen Marktwirtschaft, der persönlichen Freiheit, des Rechtes auf Eigentum und so weiter und so fort. Es liegt doch nicht an mir, dass ich mich heute linksradikal nenne, dass ich mir sagen lassen muss, hart am Rande des Verfassungsbogens zu operieren, es liegt an einer veränderten Wahrnehmung. Vor 30 oder 40 Jahren hätte man so jemanden wie mich einen Sozialdemokraten genannt, und alles wäre gut gewesen. Jetzt aber ist alles plötzlich anders.

Vor ein paar Wochen erschien eine Studie zu Linksradikalismus und Linksextremismus in Deutschland. Eines ihrer vielen überraschenden Ergebnisse war, dass linksextreme Ideen bis weit in die Mitte der deutschen Gesellschaft hoffähig geworden seien. Obwohl es praktisch keinen Linksterrorismus in Deutschland gebe, seien viele Straftaten ideologisch links motiviert, würden aber als solche nicht erfasst. Rund 61 % der Deutschen seien der Meinung, wir hätten keine richtige Demokratie mehr und würden nur tun, was die Wirtschaft verlange. 16 % der Deutschen glaubten, dass der Kapitalismus zwangsläufig zum Faschismus führe, 18 % sähen derzeit die Gefahr des Faschismus in Deutschland und 29 % seien der Meinung, dass Demokratie nur ohne Kapitalismus möglich sei. Diese Aussagen hielt der Politikwissenschaftler Klaus Schroeder von der freien Universität Berlin, einer der Autoren der Studie, für sehr bedenklich und besorgniserregend. Über solche Ergebnisse müssten sich linksextreme freuen, meinte Schroeder. Als er von der Süddeutschen Zeitung gefragt wurde, wie er Linksextreme und Linksradikale trenne, sagte er: “Extremismus
und Radikalismus sind relative Begriffe, die aus dem Blickwinkel des bestehenden Systems, in unserem Fall der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft,
zu verstehen sind. In der NS-Zeit beispielsweise waren freiheitliche Demokraten Extremisten. Heute ist jemand linksradikal, dessen Positionen sich hart
am linken Rand des Verfassungsbogens befinden, aber noch demokratisch sind: Forderungen nach Verstaatlichung zum Beispiel oder nach mehr Umverteilung. Der Extremismus dagegen will dieses System in Gänze abschaffen, nicht nur die Wirtschaftsordnung verändern.”

Das klingt harmlos, ist es aber nicht. Mit dieser Aussage ist Ludwig Erhard beinahe ein Linksradikaler, gleiches gilt für den amerikanischen Präsidenten Franklin Roosevelt. Beide Politiker setzten sich für eine Regulierung der kapitalistischen Wirtschaft ein, für eine gewisse Umverteilung nach unten, um eine Gerechtigkeitslücke zu schließen. Das Grundgesetz selbst spricht in seinem Artikel 14 über das Eigentum wiefolgt: “Eigentum verpflichtet; Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der allgemeinheit dienen.” Und in Artikel 15 schafft es die Möglichkeit, Bodenschätze und Produktionsmittel zum Zwecke der Vergesellschaftung zu enteignen. Und unser Grundgesetz steht nun wahrlich nicht in dem Ruf, eine kommunistische Verfassung zu sein. Doch neben Rechtsstaat, Föderalismus und Demokratie ist der Sozialstaat einer der Grundpfeiler unserer Gesellschaft und dieses Staates. Er verpflichtet dazu, dass jeder Mensch in Würde und ohne materielle Not sein Leben leben kann. Damit verlangt er auch Solidarität von jenen, die mehr verdienen, Grundbesitz haben und Produktionsmittel ihr Eigen nennen dürfen.

Wie gesagt, es geht um Grundpfeiler unseres Staates, nicht um irgendwelche Absichtserklärungen ohne bindenden Charakter. Doch diese Grundpfeiler sind mit der Gesetzgebung der Agenda 2010, mit der zunehmenden Abschaffung des Sozialstaates immer weiter ausgehöhlt worden. Und spätestens seit Erscheinen dieser Studie ist linksradikal, wer sich für den Erhalt der Grundwerte unserer Verfassung einsetzt, weil er, wie ich, eine gerechtere Verteilung des Wohlstandes fordert, weil er Eigentum auch als Verpflichtung begreift und verlangt, dass die freie Wirtschaft durch Maßnahmen des Sozialrechts reguliert und eingeschränkt werde.

Wenn dem so ist, dann bin ich linksradikal, meinetwegen. Aber das ist auch gut so, denn unser Grundgesetz ist es auch. Menschen wie ich stehen nicht hart am linken Rand des Verfassungsbogens, sondern genau in der Mitte, wo die Ideale unseres Staates und seiner Verfassung angesiedelt sind. Wer Gerechtigkeit verlangt, ist kein Umstürzler und auch kein Radikaler. Wer immer mehr für sich verlangt, wer materiell schwächere nicht solidarisch behandelt, der ist zumindest ein Ausbeuter, sofern er von der Arbeit der materiell schwächeren profitiert. Dies könnte man im Kontext unserer Verfassung durchaus als radikal und hart am Rand des Verfassungsbogens betrachten.

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