Abdel-Samad spannt in seiner Analyse der islamischen Welt, spannend und leicht leserlich zugleich, den Bogen vom vorislamisch-arabischen Stammesbewusstsein, geprägt von jüdischer Gesetzlichkeit, über die Niederschrift des Koran-„Wunders“ durch Mohameds Nachfolger, – bis zum drohenden ökologischen Untergang der erdölreichen Region durch Klimawandel und eine verschwenderische Sextourismusindustrie. Hauptaugenmerk legt er auf sein Geburtsland Ägypten.
von Adah Gleich
Der lange Abschied vom Abendland
“Je geschlossener eine Gesellschaft, desto stärker empfindet sie die Welt als feindselig” 1. Das tiefe Misstrauen gegen die westliche Welt fundiert seiner Auffassung nach in multiplen historischen „Kränkungen“: die Kreuzzüge (1096-1291), die Zerstörung Bagdads durch den Einfall der Mongolen (1258), die Behinderung der Modernisierungsversuche Mohammad Ali Paschas (1769-1848) durch die englische Krone, die Ausbeutung und Unterdrückung der Kolonialmächte. Auch der mit dem Kulturkreis gänzlich unbedarfte Leser bekommt im gerafften Schnelldurchlauf ein differenziertes Verständnis für vergangene und gegenwärtige politische Konflikte, wie etwa dem Karikaturenstreit.
Das Wort „Prozess“ kennt die arabische Sprache nicht
Sprach- und Politikwissenschaftler Abdel-Samad begründet die Unfähigkeit zur Veränderung der islamischen Welt mit der bemerkenswerten Einsicht, dass sich speziell die arabische Sprache seit Anbeginn des Islams nicht verändert hat. „Das Wort „Moschee“ und das Wort „Universität“ bedeuten auf Arabisch ebenfalls „Sammelort“ und haben den gleichen Wortstamm wie Gesellschaft. [….] Und so bleiben die zivilen Begriffe nicht nur in der Sprache des Korans, sondern auch im kollektiven Denken der urarabischen Sippe gefangen”. Unzählige semantische Beispiele lassen erahnen, warum in der Diaspora noch stärker an der überkommenen Religion festgehalten wird: “Das Wort für Integration auf Arabisch, – indimadj -, bedeutet zwar ebenfalls „verschmelzen”. Aber “verschmelzen” im arabischen Verständnis hat eine sehr negative Konnotation und meint eher „sich auflösen.“
Der Häretiker der Islamischen Welt heißt Facebook
„Fundamentalismus entsteht aus gescheiterten, missglückten Experimenten“. Die demokratischen Veränderungen, inklusive einer dringend nötigen sexuellen Revolution, so meint Abdel-Samad, müssen von innen kommen. Die kritische Literatur der Exil-(Ex)-Muslime wird oft nur in europäischen Sprachen veröffentlicht. Die Zielländer werden so nicht erreicht. „Was der Westen als Re-Islamisierung der islamischen Welt wahrnimmt, ist in Wirklichkeit nur ein Vorhang, der das Verschwinden der Religion verdecken soll. Die manchmal aggressive Zurschaustellung der islamischen Symbole ist nichts anderes als ein Zeichen des Rückzugs der Religion”, erklärt vielleicht am besten die These des Buchtitels. Abdel-Samad sieht Ägypten als Trendsetter in der islamischen Welt, was wir in Anbetracht der aktuellen heftigen Demonstrationen gegen die Militärregierung mit Spannung beobachten sollten.
Prädikat: Besonders empfehlenswert!
Droemer Verlag; Sept 2010 (240 Seiten broschiert) € 18,00, oder als eBook Ausgabe by Knaur eBook € 9,99, erhältlich
- Kapitel: “Von Höhlen und Schatten oder: Eine Kultur schämt sich, will es aber nicht zugeben” ↩