Heute vor einer Woche, am 9. Oktober 2019 bekam ich eine Nachricht via Whatsapp: In Halle gab es gerade einen Anschlag auf eine Synagoge und einen Dönerladen. 2 Tote. Ein Täter wurde in Delitzsch gefasst, 2 sind noch auf der Flucht rings um Leipzig.. (erst später stellten sich andere Details heraus)
Ich war zuerst gar nicht bei der Sache, das Gehirn brauchte ein paar Minuten, um zu realisieren, was ich da gerade gelesen hatte.
Kurioserweise telefonierte ich kurz vorher mit einer Freundin, die am Ende des Gesprächs - es ging um die Fahrradausbildung der Kinder in der Schule - anmerkte: „Hast du schon gehört, was in Halle passiert ist?"
Doch ich wiegelte ab, denn zu dem Zeitpunkt wusste ich tatsächlich noch nicht, was da passiert war.
Normalerweise bin ich als Medientante im Bilde, doch an dem Tag hatte ich weder Nachrichten gehört noch gelesen und mich auf eine ganz besondere berufliche Recherche zum Thema „Kinder und Urvertrauen" konzentriert.
Ja so war das.
Kurze Zeit später kamen dann von überall Info's, nicht zuletzt von Arbeitskollegen aus dem Lokaljournalismus, die oft meine erste Anlaufstelle sind, wenn es um das Auswerten seriöser Quellen geht. Manchmal auch einfach, weil wir uns brisanten Themen stellen (müssen) und dadurch einen sachlichen Blickwinkel beim Diskutieren haben.
Was war passiert?
Ein junger Mann, 27 Jahre alt, versuchte sich mit Waffen und in Kampfmontur Zutritt zu einer gut besuchten Synagoge zu verschaffen. Als das scheiterte, erschoss er zuerst eine Frau um die 40, die gerade zufällig an ihm vorbeilief, und stürmte später einen Dönerladen.
Dort brachte er einen 20-Jährigen um, der um die Zeit Mittagspause im Imbiss machte.
Er schoss auch noch mehrmals auf Passanten, die schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert wurden.
Stephan - so heißt der Täter - sei der sensibelste Mensch, den man sich vorstellen könne, beschreibt ihn seine Mutter. Er habe ihr einen Abend vorher noch beim Bügeln ggeholfen.
Seine Sorge hätte ‚dem weißen Mann' gegolten, um dessen Rechte sich nicht mehr gekümmert werde, beschreibt sie sinngemäß seine Einstellung zur Gesellschaft. Und er sähe die Macht und das Geld (der Welt) in den Händen von Juden, das störe ihn.
Die Mutter ist Grundschullehrerin in Sachsen-Anhalt, von Stephans Vater seit vielen Jahren geschieden.
Der Vater wiederum (übrigens nicht aus Kasachstan wie keiner aus der Familie) hatte keine Worte für die Tat seines Sohnes, räumte ein, schon lange nicht mehr an ihn ‚ranzukommen', wirkte verzweifelt und unter Schock.
Ich befinde mich bis heute ebenfalls in einer Art gefühlsmäßigen Schockstarre.
Das an dem Tag des Attentats auf die Synagoge in der jüdischen Gemeinschaft das höchste der jüdischen Feste gefeiert wurde, wusste ich zuerst nicht einmal.
Jom Kippur, das Versöhnungsfest.
Ich habe mich damit nie großartig befasst, welche verschiedenen religiösen Feste es gibt, bin selbst keiner Religionsgemeinschaft zugehörig, weder christlich, noch muslimisch oder jüdisch.
Doch dieser Tag war für mich furchtbar.
Dass 2019 in Deutschland eine Synagoge von einem bewaffneten und voller Hass agierenden Antisemiten angegriffen wird, ist einfach schrecklich.
Ich hab geweint, als ich dann las, dass Jom Kippur gefeiert wurde.
Da schwappten meine Emotionen über und der Tag hinterließ eine tiefe Traurigkeit in meinem Herzen, die bis heute anhält. Zuerst habe ich überlegt, an der Synagoge in Halle auch Blumen niederzulegen oder eine Kerze aufzustellen. Bisher hat es allerdings schon eine Woche gedauert, um überhaupt darüber schreiben zu können.
Zu tief saß der Schock.
Was mich noch viel mehr schockiert, ist, dass in Deutschland der Grundtenor herrscht, wir müssten heute nicht mehr die ‚Schuld' auf uns laden für die Verbrechen der Nationalsozialisten vor über 70 Jahren!
Denn es geht darum, niemals NIEMALS zu vergessen, was (unter anderem) dem jüdischen Volk angetan wurde.
Wir sprechen hier von Massenmord, der sich nie nie mehr wiederholen darf!
Es macht mir zudem große Sorgen, wie mit Rechtsextremismus in Deutschland umgegangen wird, dass es immer noch relativiert und verniedlicht wird, wenn es nationalistischen oder/und antisemitischen oder ausländerfeindlichen Terror gibt.
Schon seitdem der NSU Morde auf freier Straße beging, und noch mehr als der Politiker Walter Lübcke aus Kassel in diesem Jahr erschossen wurde, schwebt dieses Unbehagen in der Luft.
Jetzt aber ist es so nah, denn Halle ist noch fast regional.
Die Stadt wird diesen Anschlag nie mehr vergessen, es wird nie mehr wie früher sein.
Die jüdische Gemeinde hat dieses Grauen, die Hinrichtung der Passantin mit ansehen müssen und den Versuch des Täters Stephan, irgendwie in die Synagoge zu gelangen. Über eine Überwachungskamera.
Ich glaube, man bangt in so einem Moment, dass die Türen halten mögen.
Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn...
Wie wird man so wie Stephan, wie viel Hass muss in einem schlummern?
Und wo bekommt so ein junger Mensch diese wahnhafte Idee her, seine hasserfüllte mörderische Botschaft wie ein Videospiel aufzuziehen und sogar live ins Internet zu streamen?
Es ist unvorstellbar grausam, einfach nicht zu verstehen.
Ich möchte einerseits am liebsten meine Augen vor den wachsenden Problemen verschließen, andererseits Staat und Polizei vertrauen können, dass wir hier in Deutschland in der Lage sind, Glaubensfreiheit zu gewährleisten und Sicherheit durch eine optimale Terrorabwehr.
So richtig schlüssig bin ich mir da noch nicht, wenn am hellerlichten Tag in Halle so ein Verbrechen passieren kann. War es vorauszusehen?
Hätte man jederzeit mit so einem Terroranschlag rechnen müssen?
Ich persönlich denke schon.
Jederzeit müssen Einsatzkräfte bei extremistischen Terroranschlägen verfügbar sein.
Die Gefahr ist nicht neu oder unbekannt. Die Art und Weise der Planung und Durchführunge via Internet dagegen schon.
Hier im Osten haben wir schon seit der Wende ein unübersehbares Problem mit Neonazis.
Darüber redet keiner gerne, denn es waren damals eben kurzerhand ‚orientierungslose Jugendliche', die mit der Situation des Umbruchs nicht klarkamen.
Und doch hat sich aus diesen ‚Rowdys', aus dieser Jugendsubkultur eine Szene entwickelt, die nicht zu unterschätzen ist.
Die NPD hat bereits in den Neunzigern Jugendliche regelrecht abgefischt, ihnen Feriencamps, Jugendfahrten und vieles mehr geboten, natürlich niocht, ohne die ideologische Indoktrination zu vergessen.
Wie das passieren konnte? Politikversagen. Gefahr unterschätzt. „Wir haben kein Problem mit Rechtsextremismus."
(Diese Aussage könnte ich zynisch doppeldeutig sehen!)
Alle kennen die gewaltbereiten Jugendlichen und jungen Erwachsenen der Neunziger.
Kahlgeschoren, mit Springerstiefeln und ‚Bomberjacke' gekleidet, gewaltbereit und aggressiv.
Ein interessantes Video zu dieser Zeit verlinke ich euch am Ende des Beitrags.
Was in Halle passiert ist, wurde vorher in einem geisteskranken Kopf genau geplant.
Ob der Täter in der Neonazi-Szene verankert war, spielt dabei für mich keine Rolle. Er ist definitiv antisemitisch eingestellt und hat sämtliche Verschwörungsideologien dieser Szene verinnerlicht.
Und daraus bastelte er ein interaktives mörderisches Live-Videospiel. Das ist abstrus.
Mein Herz weint bei soviel Hass und Gewalt. Ich sehe mein Kind an und frage mich, in welche Welt es da hineinwächst. Es erschüttert mich!
Halle trägt Trauerflor. Hoffentlich muss nicht noch Schlimmeres passieren, damit die Politik aufwacht und endlich etwas tut.
Das Video zur Situation der Nachwendezeit und der rechten Jugendsubkultur findet ihr hier:
Die Stadt gehört uns - Rechte Gewalt in Schwedt 1993 (übertragbar auf jedes „neue" Bundesland in ähnlicher Art und Weise)
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