Im Vajrayana wird anders als im Sutrayana dem Guru eine besondere Stellung eingeräumt. Im Sutrayana wird der Lehrer als spiritueller Freund betrachtet, während er im Vajrayana eine überragende Position einnimmt. Manchen Praktizierenden anderer buddhistischer Traditionen erscheint dies fragwürdig, da sie nicht in die verschiedenen Feinheiten der Sicht dazu eingeführt worden sind und die Praxis auf den Guru als simple Verehrung einer Person auffassen. Betrachten wir daher einmal Guru und die Praxis auf den Guru aus der Sicht verschiedener philosophischer Ansätze und praktischer Herangehensweisen.
Grundlagen
Bereits die grundlegenden, allgemein Praktiken des Vajrayana gipfeln im Guru-Yoga. Dabei werden durch das Übertragen der drei Lichter die vier Ermächtigungen empfangen, die ansonsten in der Ermächtigungsstruktur des Mahayoga vorkommen. Der wesentliche Aspekt dabei ist jedoch die Erkenntnis der Ungetrenntheit der Geistesnatur des Gurus mit der eigenen.
Lebendes Beispiel
Man kann aufgrund großer Hingabe an einen äußeren Lehrer eine besondere Inspiration entwickeln. Dieser Aspekt ist im Vajrayana durchaus von großer Bedeutung, da das lebendige Vorbild des Lehrers einen Schüler zur Praxis entsprechend anspornen kann. Auch wenn das Vajrayana auf Buddha Shakyamuni zurückgeht, so ist das lebende Beispiel, der direkte Kontakt mit einem Lehrer für das Verständnis der tantrischen Lehren essentiell.
Durch die Ermächtigung des Lehrers tritt der Schüler in eine spirituelle Intimität der Praxis ein, die nicht mit weltlichen Bezügen bemessen werden kann. Die Anweisungen zur meditativen Versenkung und Visualisierung unterscheiden sich fundamental von einfachen Zwiegesprächen zwischen Lehrer und Schüler. Da im Vajrayana neben dem Leerheitsaspekt auch der Ausstrahlungsaspekt der Natur des Geistes in der Praxis zur meditativen Praxis entfaltet wird, benötigt es eine Person, die dies bereits erfolgreich gemeistert hat und den neuen Schüler durch die geistigen Schleier aus Projektion und Übertragung führen kann.
Aus dieser Perspektive wird der äußere Guru, der einem im Vajrayana die Ermächtigungen erteilt, sogar gütiger als Buddha Shakyamuni selbst angesehen, weil der Guru eben einen tatsächlich in den Pfad des Reifens und Befreiens einführt. Eine historische Gestalt mag zwar inspirierend sein, aber da wir nicht das Glück der Geburt zur Zeit Buddha Shakyamunis hatten, ist der Guru als unmittelbar vorhandene Stütze von essentieller Wichtigkeit. Diese Wichtigkeit ergibt sich auch in der Geschwindigkeit der Realisation durch das Vajrayana. Während man im Sutrayana je nach Praxisansatz und philosophischer Herangehensweise drei oder mehr Leben oder gar ein paar unendliche Zeitalter für das Resultat benötigt, wird durch die Praxis des Vajrayana Realisation in einem einzigen Leben erlangt.
Vorurteilsvolle Hingabe!
Durch den Ansatz des Vajrayana ist es möglich, in einem einzigen Leben Befreiung zu erlangen. Das langwierige Durchlaufen der Fünf Pfade von Ansammlung, Vorbereitung, Sehen, Meditation und Nicht-Mehr-Lernen geschieht hier in einem einzigen Leben. Dafür braucht es jedoch eine hohe spirituelle Reife und Hingabe. Wie der Drikung Kyobpa Jigten Sumgön in seinem Vier-Körper-Guru-Yoga zum 5-fachen Pfad zur Mahamudra sagt:„Wenn die Sonne der Hingabe nicht auf die Schneeberge scheint, dann wird sich der Segensstrom nicht ergießen.“ Doch die spirituelle Intimität zwischen Lehrer und Schüler ist nicht immer fehlerfrei.
Um bereits bei der Ermächtigung Befreiung zu erlangen, braucht es eine entsprechende Hingabe in der Sicht. Wir müssen dabei die Hingabe haben, den Lehrer als Buddha zu sehen und nicht als gewöhnliches Wesen. Doch wie sehen manche ihre Lehrer? Hat der Lehrer ein gewisses Ansehen oder ist einer der Superstars in der Dharma-Szene, dann lässt sich vielleicht leichter diese Hingabe aufbringen. Doch darin liegt auch eine Gefahr. Wir erzeugen sehr leicht eine Vorstellung davon, wie der Lehrer zu sein hätte, wie er sich zu verhalten hätte usw. Der Lehrer isst Fleisch? Der Lehrer trinkt Alkohol? Wie unbuddhistisch, denkt sich dann mancher, und merkt vor lauter Vorurteilen nicht, dass er selbst nur jemanden zum Anbeten möchte.
Ist der Lehrer jedoch nicht berühmt, vielleicht kaum einflussreich, arm und hat vielleicht auch ein etwas schroffes, direktes Auftreten, dann wird diese Hingabe in der Sicht sehr leicht auf die Probe gestellt. Andererseits sind es genau diese Lehrer, die den Konzepten der Schüler ein Ende bereiten und sie für den Dharma wirklich öffnen können. Jedoch auch diese oberflächliche Sicht, wo ein bestimmtes ruppiges Verhalten als yogische Aktivität interpretiert wird, ist wenig hilfreich. Man kann auch hier in die Irre laufen.
Meist beurteilen wir oberflächliche Erscheinungen und meinen, damit wäre Tiefgründiges erfasst. Wir erschaffen uns zuerst ein Bild von einem Lehrer und erst dann entwickeln wir Hingabe. Das ist falsch, weil die Hingabe nicht bedingungslos und eben überweltlich ist, sondern sich auf jene gewöhnlichen Auffassungen stützt, mit denen man den Daseinskreislauf erzeugt. Wir realisieren so nicht die Natur des Geistes, sondern pflegen Religion und Kult. Vielmehr sollte man die reine Wahrnehmung entwickeln, jegliche Handlungen des Gurus als Buddha-Aktivitäten zu betrachten. Erst dann sind wir in der Lage, die Natur des Geistes zu verstehen.
Natur des Geistes
Die Natur des Geistes hat zwei Aspekte – den Leerheitsaspekt und den Klarheitsaspekt. Diese beiden Aspekte werden durch „Guru“ dargestellt.
Im Rahmen eines äußerlichen Verständnisses wird Guru Rinpoche eben als historische Person bzw. eben der ermächtigende Lehrer als gegenwärtige Verkörperung von Guru Rinpoche betrachtet. Wenn man die spirituellen Biografien der Schüler von Guru Rinpoche liest, kann man deren Hingabe erkennen und ermessen, welche Inspiration dieser für sie war. Ihre spirituellen Errungenschaften bringen dann eben das Resultat ihrer Sicht und Hingabe zum Ausdruck. Betrachten wir hier nun die innere und geheime Ebene.
Wie bereits erwähnt, steht „Guru“ für die Natur des Geistes, eben die Buddha-Natur. Aus der Sicht des Madhyamika wird dies als „Leersein frei von Ausschmückungen“ bezeichnet. In Uttaratantra betrachtet man dies als Buddha-Natur, in der Literatur des Prajnaparamita als „Höchstes Erkennen“ und im Vajrayana offenbart sich dies als Guru Rinpoche, Samantabhadra, Vajradhara, Vajrasattva etc. Alle diese Begriffe verweisen auf dieselbe Sache, nämlich die Natur des Geistes – die Natur des Erkennens.
Wenn man Guru-Yoga praktiziert, dann empfängt man am Ende der Praxis die vier Ermächtigungen oder in einer anderen Praxisvariante werden die drei gewöhnlichen Tore von Körper, Rede und Geist in die des Gurus übertragen und ihre Untrennbarkeit realisiert. Man ruht einige Zeit in diesem natürlichen Zustand frei von Ausschmückung und betrachtet diesen Zustand. Bei diesem „Betrachten“ erwarten dann einige, dass irgendwelche Wunder geschehen oder sich Lichterscheinungen zeigen. Manche meinen, ein Nichts in Gestalt eines schwarzen Flecks im Sichtfeld zu sehen oder sie sehen Klarheit. All das ist jedoch unbrauchbar und von Erwartungen und Vorstellungen gesteuert. Die leere Natur des Geistes offenbart sich in einem Fehlen von Dauerhaftigkeit, zeigt sich durch Veränderung, es herrscht eben nicht immer ein bestimmtes Erkennen vor. Das klar-deutliche Erscheinen dieser Natur zeigt sich durch die illusionsgleichen Phänomene, die, weil leer von sich selbst, durch Wechselseitigkeit und Bedingtheit auftreten. Dafür verantwortlich ist eben die schöpferische Kraft, die der Natur des Geistes innewohnt.
Am Ende des Lebens
An dem für uns alle unvermeidlichen Übergang am Ende des Lebens, haben wir drei Möglichkeiten, Befreiung an dieser Stelle zu erlangen. Wenn wir die Sicht von Leersein und Klarheit verstanden haben, dann können wir im Bardo des Todes (tib., ‚chi kha’i bar do) das Klar-Licht realisieren und Befreiung erlangen. Die Phänomene des Bardos der Dharmata (tib., chos nyid bar do) erscheinen als die 100 Friedvollen und Zornvollen und sind Projektionen des eigenen Geistes.
„Kye ma! – Da mir nun der Zwischenzustand des Sterbens dämmert, will ich jegliches Anhaften, Greifen und Sehnen aufgeben, will nicht abgelenkt ins klare Verstehen der mündlichen Unterweisungen eintreten und mein Selbstgewahrsein in die Sphäre des ungeborenen Raumes wandeln. Da ich nun diesen zusammengesetzten Körper aus Fleisch und Blut verlasse, will ich ihn als unbeständige Illusion erkennen.
Kye ma! – Da mir nun der Zwischenzustand der Dharmata dämmert, will ich alle Wahrnehmungen von Furcht und Panik loslassen, mich daran erinnernd, alles was erscheint, ist die natürliche Manifestation meines eigenen Gewahrseins und der Weg, wie der Zwischenzustand sich offenbart. In diesem entscheidenden Moment will ich die Versammlung der Friedvollen und Grimmigen als meine eigenen Projektionen nicht fürchten.“
Doch dafür benötigt es eine intensive Praxis. Leichter ist es, wenn man die Praxis der zwei Stufen mit der Meditationsgottheit vollendet hat. Doch am leichtesten ist es, durch die Hingabe an den Guru sich an die eigene Natur des Geistes zu erinnern. Alle diese drei Aspekte von Guru, Sicht und Meditationsgottheit sind im Grunde ungetrennt. Sie stellen einfach verschiedene Ebenen von Verständnis und Praxis aufgrund der individuellen Geistesfähigkeiten dar.