Grundgesetz 2.0?

Von Stefan Sasse
Im Verfassungblog schlägt Maximian Steinbeis vor, das Urteil des BVerfG positiv zu nehmen und einfach nach Artikel 146 eine Volksabstimmung zu veranstalten. Dafür müsse gar nicht viel vom Grundgesetz geändert werden; man könnte stattdessen die kritischen 23 und 79III ändern, so dass eine Kompetenzübertragung an Europa in größerem Maße möglich würde und den Rest stehen lassen. Voila, eine neue Verfassung - die dann sogar so heißen könnte - und das Problem wäre gelöst, richtig demokratisch sogar. Einer solchen Abstimmung räumt er große Chancen ein. Ich stimme dieser Einschätzung zu, und es lohnt sich, einen Augenblick darüber nachzudenken.
Einmal angenommen, eine solche Mammutaufgabe würde in der Tat unternommen - sie könnte nur eine Allparteienaufgabe sein. Es ist völlig unvorstellbar, dass etwa nur drei oder vier der Parteien im Bundestag sich daran machten, oder vielleicht der Bundestag mit seiner Mehrheit und der Bundesrat mit seiner (was letztlich auf eine Große Koalition zwischen SPD und CDU hinauslaufen würde). Der gangbare Weg wäre wohl, eine Art Konvent einzuberufen, wie es 1949 auch getan wurde, mit Vertretern aus den Ländern und den Parteien. Vielleicht sendeten sie die Landtage, wie bei einer Bundespräsidentenwahl, vielleicht würde man sie sogar wählen (obgleich das dermaßen viel Sinn nicht macht). In jedem Fall müsste am Ende eine Versammlung stehen, die einen Querschnitt des politischen Deutschland repräsentiert - das heißt, auch die LINKE, das heißt, auch die Piraten und wahrscheinlich, auch wenn es der politischen Hygiene widerspricht, der NPD. Man kann nur hoffen, dass neben dem Proporz auch der Sachverstand eine Rolle spielt. Ohne einige herausragende Verfassungsrechtler sollte man jedenfalls nicht losmarschieren.
Doch die Zusammensetzung einer solchen verfassungsgebenden Versammlung wäre nicht der erste Sprung über den eigenen Schatten, den viele hier wagen müssten. Eine echte Aussicht auf Erfolg kann das Unternehmen eigentlich nur haben, wenn am Ende ein Konsens herauskommt (weswegen die exakte Zusammensetzung nach Parteirelationen auch nicht so wichtig ist; hier könnten gerade die großen Parteien großzügig sein). Ein Konsens, vor allem, hinter dem für die dann anstehende Volksabstimmung auch alle Parteien stehen. Welchen Effekt könnte eine solche Zurschaustellung von Einigkeit aller Demokraten haben (ganz besonders wenn, was zu erwarten wäre, die NPD sich als Einzige dem verschlösse)! 
Wie Steinbeis selbst schon sagt, die Werbekampagne entsteht quasi vor dem geistigen Auge, mit Schmidt und Kohl als quasi sichere Posterboys der früheren europäischen Einigung, die dem ganzen die nötige Aura von staatstragendem Pathos geben würde. Auch Adenauer und Brandt sollten fairerweise nicht fehlen. Klar, dagegen sähen Steinmeier und Merkel blass aus, aber das Opfer muss man bringen. Zwar stimme ich Steinbeis zu, dass der Euroskeptizimsus in Deutschland nicht so schlimm ist, wie das oft den Anschein hat. Eine Mehrheit sollte drin sein. Aber man darf die Rechtspopulisten nicht unterschätzen. Zum Einen ist es relativ leicht möglich, Ressentiments zu wecken, die sich gerade in dieser Situation schwer gegen die parlamentarische Demokratie als Ganzes richten würden: wenn alle Parteien diesen Vorstoß unterstützten, könnte man Angriffe à la "abgehobene Politkaste" problemlos fahren. Und das Drama um die Ratifizierung von Lissabon in Irland hat gezeigt, dass eine Unterstützung aller Parteien keine Garantie für einen Erfolg ist. Zum Anderen ist eine solche Abstimmung vielleicht genau der Knackpunkt, der die Etablierung einer rechtspopulistischen Partei in Deutschland ermöglicht. Nicht der NPD, sicherlich, aber irgendeine Pro-Bewegung wird sich schon finden, die dann plötzlich in einsamer Opposition zu einem bundesweiten Phänomen wird.
Eine andere Gefahr droht von den Initiatoren eines solchen Konvents selbst. Die Versuchung, am Grundgesetz herumzuspielen, ist immer hoch. Im Schnitt hat die BRD in fast jedem Jahr ihres Bestehens eine GG-Änderung erlebt. Die Forderung irgendetwas hineinzuschreiben, ist in diesem Land furchtbar schnell bei der Hand, ob es sich um Asylgesetze, Amtssprache oder Atomausstieg handelt. Deswegen dürfte es nicht sein, dass irgendwelche Parteien Bedingungen stellen - etwa die Aufnahme einer noch rigideren Schuldenbremse oder eines Mindestlohns, von Steuersenkungen oder gleich einer generellen Revision des Grundgesetzes zugunsten einer neuen noch zu schreibenden Verfassung oder irgendeines anderen programmatischen Kernstücks. Es dürfte einzig und allein um die Revision dieser beiden Artikel gehen, die eine umfassendere Integration ermöglichen. Und diese Revision muss ergebnisoffen sein. 
Das heißt, dass der Streit um die Ausrichtung der Union dann auch dort ausgetragen werden soll. Ein solcher Konvent muss alleine die Möglichkeit schaffen. Die Richtung vorgeben soll er nicht. Das auszutragen ist die Aufgabe der Parteien, nachdem der Weg bereitet wurde. Die Richtung, in die man ihn gehen will, ist eine andere Grundsatzentscheidung, die dem öffentlichen Diskurs losgelöst von der Möglichkeit unterworfen sein muss. Natürlich, es ist unwahrscheinlich dass das alles passiert. Es wäre allerdings tatsächlich eine Lösung. Und sicherlich nicht die Schlechteste.

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