Grosser Unterschied zwischen Theorie und Praxis

Zwischen Theorie und Praxis liegt ja bekanntlich ein riesiger Unterschied. Ich habe in den letzten Tagen intensiv Ratgeber für Alleinerzieher studiert. Online wie offline. Ich musste mich wirklich durch eine Menge Blödsinn durchkämpfen und komme zu dem Schluss: Es ist schön, dass die Autoren solcher Ratgeber damit ihren Lebensunterhalt beschreiten oder sich kreativ ausleben können. Ich unterstütze das. Theoretisch. Aber in der Praxis stelle ich fest, dass weniges davon wirklich hilfreich ist. Auf drei dieser Tipps möchte ich heute gerne mit PRAXIS antworten. Ein Stück Realität:

 

Theorie Nr. 1: “Benutzen sie ihr Kind nicht als Partnerersatz.”

Ja. Schon klar. Uns allen ist bewusst, dass wir mit unseren Kindern kein Sexualleben teilen oder ihnen aus der Zeitung vorlesen können. Davon abgesehen – ganz ehrlich – Kinder sind viel langweiliger als Lebenspartner, weil die Gespräche mit Ihnen in der Regel keinen intellektuellen Anreiz bieten. Das einzige, was mir jetzt auf Anhieb einfällt, was Kinder und Lebenspartner miteinander gemeinsam haben ist: Beide nerven von Zeit zu Zeit. Fakt ist allerdings, dass die Bindung zwischen einem Alleinversorger und seinem Kind sehr stark ist. Nachdem ein Teil der Versorgung zusammengebrochen ist, kuscheln diese beiden sich sehr eng zusammen und teilen sich gemeinsam ein fieses Gefühl: Die Angst davor, verlassen zu werden. Das sorgt dafür, dass Mutter/Vater und Kind sich aneinander festkrallen. Und das tut sicher niemand aus einer Absicht heraus, sondern aus den Tiefen seines Unbewussten. Dabei passieren viele hässliche Dinge. Ich kann meinem Kind nichts vormachen. Ich kann nicht verschweigen, wenn es mir nicht gut geht. Mein Kind merkt das wie ein Hund das Gewitter wittert. Und man gerät in Erklärungsnöte. Tipps wie Überfordern sie ihr Kind nicht mit Dingen, die es nicht verstehen kann , bringen mir an dieser Stelle herzlich wenig. Irgendetwas muss ich meinem Kind ja sagen und sie belügen möchte ich auch nicht. Es passiert also, dass ich mein Kind überfordere. Ständig. Und Studien belegen, dass Kinder von Alleinerziehenden schneller selbständig werden. Was zum Teil sicher auch an diesen Vorgängen liegt. Sicher ist es unfair, dem Kind so etwas “anzutun”. Aber wie unfair ist es, Alleinerziehenden immer wieder zu raten, sich auf die Zunge zu beißen und selbst zu zensieren? Was ist denn, wenn ich vor lauter Alleinekümmern kaum mehr dazu komme, mich irgendwem anzuvertrauen? Tipps wie diese sind theoretisch gut, in der Praxis aber kaum durchführbar und am Ende machen sie mir nichts als ein schlechtes Gewissen.

 

Theorie Nr. 2: “Lassen Sie sich helfen: Es gibt zahlreiche Interessen-Gemeinschaften, Verbände und Organisationen, die sich speziell dem Thema Alleinerziehende und der Einelternfamilie widmen.”

Wer meinen letzten Artikel gelesen hat, kann an dieser Stelle nur laut lachen. Soso. Verbände. Eine treue Leserin hat mir einen guten Rat gegeben. Ich solle mich an sog. NRO-Gruppen wenden. NRO steht für Nichtregierungsorganisation . Diese Gruppen werden nicht staatlich subventioniert und müssen sich somit auch zu keinen vermeintlich politisch korrekten Beiträgen verpflichten. Dieser Rat war wirklich schon sehr hilfreich. Ich bin dabei und habe auch schon einige links gefunden, die ich Euch bald guten Gewissens werde empfehlen können. Was am Ende aber bleibt, ist immer noch das Zeitproblem. Wann findet man zwischen Arbeit, Haushalt und Erziehung denn bitte noch die Zeit, sich politisch zu engagieren? Und ich weiß, dass ich über eine Menge Energie verfüge. Außerdem habe ich “nur” ein Kind. Was ist mit denen, die weniger Energien und mehr Kinder haben? Eine nette Idee. Nichts weiter …

 

Theorie Nr. 3: “Damit Alleinerziehenden nicht in eine soziale Isolation abrutschen, sollten sie sich Rückbestätigung im Freundes-, Bekannten- oder Familienkreis suchen und gegebenenfalls auch Unterstützung annehmen, wenn sie angeboten wird.”

Aha! “Wenn sie angeboten wird!” Das war mir der liebste Ratschlag. Ich kann nur für mich sprechen: Selbstverständlich nehme ich jede Hilfe an, die sich mir bietet, aber wie oft passiert denn das? Der Satz beginnt mit dem grausamen Begriff “soziale Isolation”. Und häufig fühle ich mich genauso: Isoliert. Da meine Tochter ja zur Zeit Urlaub bei ihrem Vater macht, habe ich plötzlich Zeit, Dinge zu unternehmen. Gestern Abend war ich zum Beispiel mit einem Mann aus, der mich fragte: “Dann ist bei dir jetzt gerade alles anders als sonst, oder?!” Das hätte mir fast den schönen Abend verdorben. Ich wurde nachdenklich und bestätigte schließlich nüchtern. Ja, so sei es. Normalerweise kann ich Abends gar nicht weggehen, weil ich es mir a) nicht leisten kann und b) niemanden kenne, der in so einem Fall auf mein Kind aufpassen würde. Ich bin ausgeschlossen von so normalen sozialen Dingen wie Abends auszugehen. Und meine Freunde … nun. Bis auf eine Freundin, die im selben Haus wohnt wie ich, habe ich die meisten Freundschaften in den letzten Jahren extrem vernachlässigt. Ich bin es satt, sie immer einladen zu müssen! Ich will mit ihnen ins Kino gehen und in Kneipen. Ich will mit ihnen Nächte durchtanzen. Ich will sie nicht bewirten und in meiner öden Wohnung herum sitzen. Und all diese freundschaftlichen Leichen in meinem Keller rufen mich selbstverständlich auch kaum noch an, geschweige denn, dass sie mir aus heiterem Himmel heraus, irgendeine Hilfe anbieten würden. Sie bekommen doch gar nichts mit von meinen Schwierigkeiten.

 

Der Herr von Goethe hat gesagt:

“Die Theorie an und für sich ist nichts nütze, als insofern sie uns den Zusammenhang der Erscheinungen glauben macht.” 

Der Herr von Goethe war ein schlauer Mann. Da sind wir uns vermutlich einig.

 

Ich will wirklich keine Theorien mehr hören.

Ich will Praxis sehen.

Daran arbeite ich zur Zeit. Und falls mir dabei von jemandem von Euch, Hilfe angeboten wird …

Ja, dann nehme ich die selbstverständlich an .

 

“Und überhaupt, was soll Wahrheit schon heißen???”

 

Ein Beitrag von Maike von Wegen / mutterseelenalleinerziehend.de


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