Gott ist die Verlegenheit des menschlichen Verstandes

20.12.2009Kultur erstellt von Helmut N. Gabel

Sufi-Weise beschämen ihre Gegner mit Toleranz – Peter Brook inszeniert „Eleven and twelve“ in Paris

Gott ist die Verlegenheit des menschlichen Verstandes

Tierno Bokar spricht mit einem Schüler

„Meister, liebt Gott auch die Ungläubigen?“ „Ja, er liebt die Ungläubigen.“ In einer der ersten Szenen klingt das Thema Toleranz in dem Stück „Eleven and twelve“ an. Das Stück basiert auf einem Buch von Amadou Hampaté Bâ, „Leben und Lehren des Tierno Bokar – Sufi-Weiser aus Bandiagra“.
Makram Khoury trifft mich nach der Aufführung im Foyer des Pariser Théâters des Bouffes du Nord zum Interview. Wir haben uns noch nie gesehen, aber er erkennt mich auf Anhieb. Seine Antennen für Menschen und Situationen scheinen nicht nur auf der Bühne aktiv zu sein. Unter anderem interessiert mich, ob Peter Brook‘s „Eleven and twelve“ eine neue Variante seines Stils hervorgebracht hat. Die Einfachheit, die Leichtigkeit, die Fantasie des Zuschauers anregend, ein international besetztes Ensemble: das fand ich vor 20 Jahren in der Inszenierung des Mahabarata Epos. Und ich fand auch jetzt, dass Peter Brook nicht dem lauten, verstörenden, politisch verbrämten Regietheater und auch nicht der schnellen, meist ironischen Unterhaltung huldigt. „Eleven and twelve“ handelt von einem hoch brisanten Thema, das einen Aspekt der gesellschaftspolitischen Situation im Iran spiegelt. Die Machthaber im Iran haben den Islam „operiert“, sie haben den Wert der Toleranz aus der Religion entfernt und da im Iran Religion und Staat verquickt sind, wird jeder, der anders denkt und dies äußert verfolgt, eingesperrt, drangsaliert und als Feind der Nation und des Systems denunziert. Unter anderem werden die Sufis verfolgt. „Eleven and twelve“ spielt in Afrika in der Zeit vor dem 2. Weltkrieg als Frankreich noch Kolonialmacht in Mali war. Das Stück berührt den Themenkreis der Toleranz, den auch Lessing in seinem „Nathan der Weise“ entfaltet hat. Zwei Sufi-Weise halten Toleranz für Ihren wichtigsten Wert und sie leben ihn. Tierno Bokar (Makram Khoury) und Cherif Hamallah(Khalifa Natour) sind davon überzeugt, dass Toleranz die wesentlichste Eigenschaft und die am schwierigsten zu entwickelnde Qualität eines Menschen ist. Nachdem sie vielfältigen Schwierigkeiten aufrecht getrotzt haben, opfern sie am Ende ihr Leben für diesen Wert.
Der dramatische Bogen des Stückes rankt sich um zwei unterschiedliche Auffassungen, wie oft ein Gebet wiederholt werden soll: die einen sagen elf Mal, die anderen bestehen auf zwölf Wiederholungen. So könnte das Stück in Anlehnung an dieser sich zu einem tödlichen Konflikt unter verschiedenen Gruppierungen ausweitenden Meinungsverschiedenheit eigentlich auch „Eleven or twelve“ heißen. Aber die Weisen selbst vereinen Gegensätze miteinander und üben dadurch Toleranz aus - so ist der zunächst wenig aussagende Titel des Stücks zugleich die Botschaft „Eleven and twelve“. Es ist aber auch ein Stück über die Arroganz mächtiger Männer angesichts frommer Männer. Manchmal drücken fromme Männer ihre Sichtweise darüber in Geschichten wie dieser aus:
„Es war die Zeit der Dürre. Es gab wenig zu essen. Die Hyäne hatte nichts gefunden und kam zurück zu ihrem Kind. Sie erblickte ihr eigenes Kind und rief: ›Da ist ein Lamm, das werde ich jetzt verzehren!‹ Das Kind erkannte die Absicht der Mutter und schrie verzweifelt: ›Mutter, Mutter, erkennst du mich nicht, ich bin dein Kind! Hier ist kein Lamm!‹ Die Hyäne war hungrig und blieb dabei ein Lamm vor sich zu haben. So machte sie sich über ihr eigenes Kind her, das völlig entsetzt von der eigenen Mutter gefressen wurde.“ Das System frisst seine Kinder, möchte man denken und wir fühlen uns an die Situation im Iran erinnert, wo ein Teil der fundamentalistischen Machtelite genau die verfolgt, die sie eigentlich schützen sollte: Studenten und Sufis.

Peter Brook hat mit seinem Théâtre des Bouffes du Nord einen Ort für ein internationales Publikum geschaffen, der wie eine Art „Laboratorium“ für eine Kultur spiritueller Werte erscheint. Vorwiegend junges Publikum zwischen 20 und 40 Jahren sitzt in dem Bau, der nach zwei Feuern verwittert, aber nicht ungepflegt aussieht. Peter Brook vertritt ein Theater der stilvollen Einfachheit, deshalb bleibt der Ort so wie er geworden ist. Alles ist an seinem Platz, nichts wird durch überflüssigen Zierrat verfälscht und trotzdem herrscht eine warme, belebte Atmosphäre. Die Schauspieler stammen aus unterschiedlichen Nationen, Kulturen, Ethnien und gehören auch unterschiedlichen Religionen an. Zum Beispiel hat Peter Brook jüdische Wurzeln, der Musiker Toshi Tsuchitori, der dem Spiel atmosphärische Klänge gibt stammt aus Japan, Khoury hatte einen Großvater, der Priester der syrisch-orthodoxen christlichen Kirche in Palästina war.
Khoury, der schon mehr als 30 Jahre auf den Bühnen dieser Welt gestanden hat - in Deutschland aus dem Film „Die syrische Braut“ bekannt - hat sich Zeit für ein Gespräch genommen, um über das Stück, das Theater, Peter Brook und sein eigenes Leben zu erzählen.

Khoury erzählt gerne und vergisst dabei, dass er eigentlich sehr hungrig ist. Er erzählt von Palästina, von seiner Begegnung mit Peter Brook als er selbst noch in Mahmoud Darwischs „Al Djidaria“ spielte und von seinen Kindern, die beide den Beruf des Vaters ausüben. Mit seinen Kindern ist er mitten im Thema Toleranz. Sein Sohn hat sich in die Tochter einer sehr gläubigen Muslima verliebt und ist um ihrer Liebe willen konvertiert. Das gab innerhalb der Großfamilie einige Irritationen, aber die Liebe war größer.
Khoury kann gut erzählen, die Bilder sind dicht gewoben und von seiner ganzen Persönlichkeit angereichert. Sein Vater war Anwalt und Makram Khoury sollte es auch werden, wollte er aber nicht: „Nein, ich will kein Anwalt werden, Anwälte lügen“, warf er dem Vater vor. „Aber Schauspieler lügen auch“, bekam er zur Antwort.
Khoury sagt, er empfinde seine Arbeit als Schauspieler nicht als Lügen: „Die Bilder und Empfindungen kommen durch alle Kanäle, Du schaffst in Dir selbst die Wahrheit. Es kommt darauf an, worauf Du Deinen Fokus legst.“ Und das überträgt er auch auf das Leben im Allgemeinen: „Du entscheidest, was Du aus Deinem Leben machst. Man muss sich im Klaren darüber sein, was man eigentlich tut und sich hinterfragen, immer wieder hinterfragen.“

Diese Weisheiten scheint er mit Peter Brook zu teilen, denn das entspricht der Art, wie die Stücke von Brook lebendig gehalten werden. Ab und an sitzt der Altmeister unter den Zuschauern und bei der nächsten Probe wird manches Alte verworfen und Neues versucht, so dass die Schauspieler nicht nur routiniert das Stück abspielen. Ich fragte Khoury, was ihm am Theaterleben im Bouffes du Nord gefällt. „Es ist kein Job, den man so abreißt. Das Ensemble trifft sich vor jeder Aufführung, um sich einzustimmen. Wir sind immer wieder überrascht von diesen Übungen. Manchmal fühle ich mich an die Schauspielschule erinnert. Es tut gut substanziell zu arbeiten.“ Seine Augen blitzen dabei. Er verkauft seine Überzeugung von diesem Theater gut, schließlich hat er schon seit er denken kann seine Geschichten mit Begeisterung erzählt. Zurzeit begeistert ihn Toleranz.

Makram lässt sich mit großzügig übersetzen. Die Rolle des Tierno Bokar scheint gut zu ihm zu passen, der muss in mehreren schwierigen Situationen großzügig sein.
Peter Brook schrieb vor fünf Jahren über Hampaté Bâ’s Geschichte: „Das Thema wirft ein lebendiges Licht auf eine Frage, die uns alle betrifft – die Macht von Gewalt und die wahrhaftige Toleranz, die noch weitaus mächtiger ist. Damit wir uns wirklich betroffen fühlen, muss das Theater etwas mit unserem Leben zu tun haben, um unsere Vorstellung zu erreichen, müssen die Elemente eines Theaterstücks immer frisch und unerwartet sein. Diese Geschichte vereint zwei Aspekte. Sie bringt keine Antworten, aber erweckt ein Geheimnis zum Leben.“

Wer demnächst nach Paris will, sollte unbedingt nachsehen, was im Bouffes du Nord noch läuft, es lohnt sich. „Eleven and twelve“ allerdings wird auf Welttournee gehen.

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