Schlange vor dem East Village Club, Old Street, London
Eine Oktobernacht im Londoner Club East Village.
Meine Gehörgänge werden von einer Musik penetriert, die ein befreundeter DJ aus London mal treffend als „kids dubstep“ bezeichnet hat. Quietschende Sounds überlagern einen leidenschaftslosen Beat und transportieren mich zurück in eine kurze Kindheits-Phase, in der ich zuhause Thunderdome-Kassetten mit H.R. Giger-artigen Aufdruck aufdrehte und inspiriert von repetitivem Stumpfsinn auf meiner Matratze moshte. Das machte wenigstens Spaß. Ich möchte die Leute zutiefst verachten, die gerade auch nur annähernd mit dem Kopf nicken, aber das wäre ignorant. Und spielverderberisch, zumal ich auch noch ganz neu in London bin. Es ist ungefähr so, als würde man sich Roger Cicero U2 im Vorprogramm von Miles Davis Slayer antun. Reiner Masochismus. Aber es lohnt sich, bereits jetzt schon einen guten Platz zu haben, denn ein paar Minuten später betritt der Künstler das DJ-Pult, wegen dem ich eigentlich hier bin: Goth Trad…
Nach seinem Gig bahne ich mir draußen vor dem Club den Weg zu Goth frei. Umzingelt von Leuten, eher Geeks als Groupies, beschließen wir, uns für ein Interview am nächsten Montag zu treffen.
2 Tage später sitzen wir im Café Oto im aufblühenden, noch nicht ganz gentrifizierten Stadtteil Dalston. Goth ist hier Stammgast, wenn er in London ist, erzählt er, jeden Abend fänden hier Konzerte aus dem Bereich experimenteller Musik, Free Jazz und Noise statt. „Oto“ ist japanisch und bedeutet Sound.
Sound, ein Thema, auf das wir immer wieder zu sprechen kommen. Goth fand über den Umweg von experimenteller Musik und frühem Warp-Electro zu seinem aktuellen Sound. Heute ist er vor allem bekannt als einer der bedeutendsten internationalen Dubstep-Künstler und veröffentlichte zuletzt das Album “New Epoch” auf Mala´s Label Deep Medi. Als Japaner konnte er seine Leidenschaft für viszerale Sub-Bässe und komplexe Rhythmen zunächst nur in London teilen. Mit seinem damaligen Noise-Projekt tourte er mit dem Londoner Künstler The Bug schon in den frühen 2000ern durch das Königreich und wurde dort schnell auf das aufmerksam, was damals noch als instrumentaler Grime bezeichnet wurde. Dadurch hatte er schon in den Geburtsjahren von Dubstep gute Kontakte zur Szene…
Phire: Du hast schon lange vor deiner Karriere als Dubstep-Künstler begonnen, professionell Musik zu machen. Wann war das genau?
Goth-Trad: Das war 1999. Damals war ich mehr an experimentellem, deepen Hip Hop und abstrakter Musik interessiert, ich stand auf diesen Warp-Sound, you know? Eigentlich habe ich auch immer schon Livesets performt und nie DJ-Sets gespielt. Erst seitdem ich auch Dubstep produziere, lege ich auch richtig auf. Ich wollte immer schon mit Effekten in Echtzeit arbeiten. Ich machte damals viele experimentelles Zeug, viel Musik ohne Beats.
P: Also Ambient?
G: Es war eher Noise. Ich baute meine eigenen Instrumente und arbeitete mit Programmen wie Super Collider. Damit layerte ich hauptschlich Klangflächen und mischte live andere Sounds hinzu. Ich baute damals schon meine eigenen Effektpedale.
P: Wo hast du gelernt, Effekte zu konstruieren? Hast du etwas in der Richtung studiert?
G: Nein, ich habe mir das selbst beigebracht. Ich habe einfach alles im Internet abgecheckt (lacht). Zurzeit arbeite ich übrigens an einem neuen Nebenprojekt, für das ich mit einem Reggae -Bassisten aus Japan arbeite. Er ist 10 Jahre älter als ich und spielt ausschließlich Reggae-Basslines, während ich Jungle- und Dub-Beats dazu mische.
P: Wie bist du denn damals auf die Londoner Bassmusic-Szene aufmerksam geworden?
G: 2004 habe ich zum ersten Mal Grime gehört, auf BBC1. Vor allem die Beats weckten meine Aufmerksamkeit. Zur gleichen Zeit hatte ich mein zweites Album herausgebracht, es war reine Noise-Musik. Und Grime hat mich dazu inspiriert, mehr tanzbarer Musik zu machen. Ich experimentierte viel mit instrumentalem Grime und Halfstep-Drum&Bass.
P: Warst du zu dieser Zeit schon mal in England?
G: Ja, ich war schon öfter dort.
Goth posiert vor dem Café Oto .-) - Foto: Phire
P: Du kanntest also schon die Grime-Szene vor Ort?
G: Ja. Und als ich ein paar Tunes nach England schickte, meinten einige DJs dort, dass es eigentlich Dubstep sei (lacht). Ich kannte den Begriff damals noch gar nicht. Mein Sound war zwar schon immer sehr dub-lastig, aber ich wusste zu der Zeit nicht, dass man es Dubstep nennt. Außerdem war ich 2004 mit The Bug auf Tour, wo wir uns oft über Grime und die Londoner Szene unterhielten. Später irgendwann legten ein paar DJs aus England in Japan auf und als ich ihnen meine Tunes zeigt, wollten sie einige unbedingt veröffentlichen.
P: Welche Tunes?
G: Back to chill zum Beispiel, den ich 2004/2005 produzierte. Ich spielte dann 2005 ein paar Gigs in London. Und zu dieser Zeit arbeitete ich an einer Mischung aus Hip Hop, Grime und viel Sub-Bass. Und als ich mit meinem Liveset begann, kamen plötzlich jede Menge Grime-MCs zum DJ-Pult und begannen, zu rappen. Ich fand das gut, denn ich merkte, dass sie meinen Sound wirklich fühlten. Eine ganze Zeit lang ging es nur noch: „Lass mich, lass mich.“ Das ging dann über das ganze Set lang (lacht).
Wenn ich zurückblicke, ist es schon interessant, denn 2003 hatte ich mein zweites Album herausgebracht, das hauptsächlich aus reiner Noise-Musik bestand, naja, es bestand aus 70 Prozent Noise und der Rest aus etwas anderem. Im Nachhinein klingen für mich ein paar Tunes heute wirklich wie Dubstep. Sie enthielten schon immer viel Bass und einen Halfstep-Beat. Die Tracks bestanden aus 2 Teilen.
P: Du meinst, sie bestanden aus verschiedenen Tempo-Spuren?
G: Ja, ich schrieb die Tracks meistens in 80bpm. Und sie fühlten sich aber gleichzeitig an wie 160. Und, ich denke, diese Art von Grime, also die Instrumentals, waren dem sehr ähnlich, woran ich damals im Studio arbeitete.
P: Wann hattest du denn den ersten Kontakt zur Londoner Dubstep-Szene?
G: 2007 war ich wieder in England auf Tour und als ich nach London kam, kontaktierte ich Mala über MySpace. Wir trafen uns dann im Plastic People Club auf der FWD night. Da hörte ich auch zum ersten Mal DMZ- Tunes. Als ich dann ein paar neue Tracks auf MySpace veröffentlichte, kontaktierte mich Mala sofort, da er einen der Tunes auf Deep Medi veröffentlichen wollte. Mein erstes Release auf Deep Medi war also 2007.
P: Wie war dann deine erste, reine Dubstep-Show in London? Kannst du dich noch an die Reaktionen der Leute erinnern?
G: Also meine erste Dubstep-Live-Show war 2007 auf der DMZ Night in London. Es war überragend..
P: Inwiefern?
G: Mit meinem Noise-Projekt war ich auch manchmal in Europa unterwegs und ich begann erst danach, Dubstep zu performen. Und gerade in Japan war es schwierig, Dubstep zu spielen, denn es war sehr neu für die Leute. Sie konnten es nicht richtig verstehen. Ich glaube, Japaner mögen nicht wirklich diese tiefen Bässe. Außerdem gab es dort auch keine guten Sound Systems. Als ich dann zum ersten Mal bei DMZ spielte, war ich total überwältigt, einerseits vom Druck des Bass und andererseits von der total enthusiastischen Crowd (lacht). Die Leute konnten genau verstehen, worum es in meiner Musik geht. Und auch die anderen DJs spielten nur richtig gutes Zeug. Sehr viele Dubplates. Das waren sehr besondere Momente damals.
Diese Momente gehören aber keineswegs der Vergangenheit an. Sobald Trad sein Set 2 Tage zuvor beginnt, bekommt die Luft sofort diese besondere Art von Schwere, die Dubstep im Club so eindrucksvoll machen. Die tiefen Frequenzen verdrängen alle überflüssigen Klangmoleküle im Raum, Bewegungen werden träge, so als plötzlich der CO2-Anteil in der Luft zugenommen hätte. Ich befinde mich ich in einer Kapsel aus Sound. Eine subtile Lichtquelle markiert den schemenhaft zu erkennenden Goth-Trad, der seine Tracks auf seinem selbst gebauten Mixer mit Effekten bearbeitet. Neben einigen seiner Classics spielt er vor allem neue Stücke, die mittlerweile, 4 Monate später, auf seinem Album New Epoch veröffentlicht wurden. Dubstep, der modern klingt, ohne die ursprünglichen Grundelemente aus den Augen zu verlieren, die da wären: Enorme Räumlichkeit, erdrückende Subbass-Lines, verfremdete Vocal-Fetzen, die polyrhythmische Vereinigung von gleichzeitiger Langsamkeit und Geschwindigkeit und der alles bestimmende Spannungsbogen zwischen maximaler Energie und Kontemplation.