Gleichnis von den Castingshows anvertrauten Talenten

 

oder Eine kurze Abhandlung zu dem, was Talent sein soll und was nicht.
Der Musiker war stets Lakai. Er bot seine Künste, sei es als Betätiger eines Instruments, sei es als Sänger, feil. Zu musizieren oblag zunächst den Sklaven, später war es Berufung, manchmal auch Beruf. Angesehen war der Musikus deswegen noch lange nicht. Nicht als Intrumentalist, nicht als Sänger jedenfalls. Irgendwann war derjenige, der Musik schrieb, dann doch gesellschaftlich geachtet und allgemein umschwärmt. Reproduzierende Musiker, Sänger und Instrumentalisten also, blieben nur Medium, sah man als Leute an, die ein Handwerk beherrschten, die nach Noten sangen oder spielten, die ein anderer im Anflug von Kreativität für sie aufschrieb. Tim Blanning beschreibt das ganz anschaulich in seiner musikalischen Kulturgeschichte namens "Triumph der Musik" und meint weiter, dass die reproduzierende Gilde erst mit den Eintritt technischer Mittel die produzierende Partei (Komponisten) in der öffentlichen Gunst überflügelte. Die Möglichkeit Musik aufzuzeichnen und für ein Massenpublikum zu verstärken, gebar die Idee, dass dem Sänger und Instrumentalisten der Vorzug vor denen zu geben sei, die Music & Lyrics entwerfen.

Die Reproduktion von Musik wurde letztlich der gesellschaftlichen Verehrung überstellt, die Produktion blieb und bleibt bis heute im stillen Kämmerlein. In gewisser Weise entzieht man dem kreativen Akt, sich Musik im Kopf auszudenken, sie aufzuschreiben und zu arrangieren, sie also in die Welt treten zu lassen, die Gnade der Begabung. Musik nicht akustisch, sondern zunächst in der Vorstufe, das heißt, sie geistig zu gebären, entzieht sich der öffentlichen Wahrnehmung weitestgehend. Bei Talentwettbewerben und Castingshows treten Reproduzierer an und werden wild gefeiert. Noch nie hat man erlebt, dass dort jemand als reiner Produzent auftrat. Zuweilen als Komponist, Intrumentalist und Sänger in Personalunion, wobei die reproduzierenden Aspekte stets über den Verbleib entscheiden; das Produkt allerdings, das entworfene Stück, es ist stets nur Marginalie.
Wo werden Dichter, Schriftsteller, Komponisten gecastet?
Hat man denn schon erlebt, dass jemand sich zum Supertalent aufschwang, nur indem er ein Bündel loser Blätter hinwarf, darauf hinweisend, dass das Songs seien, die er sich ausdachte, die er in Noten fasste, die er schrieb, die kurz gesagt, sein ganzes Talent ausmachten? Hat man je jemanden gesehen, der dort als Schriftsteller auftrat, aus Texten rezitierend, die er ersann? Supertalent meint hier nicht jede erdenkliche Form von Begabung, sondern eine von Format und gesellschaftlicher Konvention vorgegebene Art von Talent. Die Genialität eines Dichters hat auf einer Bühne, die für Casting-Pöblikum gezimmert ist, nicht den Hauch einer Chance, das Nachsingen von Liedtexten, die aus fremder Feder stammen, findet jedoch zuweilen tosenden Applaus.
Der geistige Akt der Kreativität kommt in solchen Showformaten so gut wie gar nicht vor. Die körperliche Kreativität ist hingegen fester Bestandteil des Konzepts. Die taucht immer dann auf, wenn jongliert oder getanzt wird, wenn Artisten oder Stuntmen auftreten. Einfallsreichtum ist dort aber nicht hoch im Kurs, reproduzierende Musiker bekommen zwar eine Plattform, kreative Musikschaffende, die lediglich arrangieren, schreiben und sich im Kopf denken, was auf der Bühne zu sein hat und wie es sich anhören soll, sind von solchen Talentwettbewerben aber gänzlich ausgeschlossen - und schlimmer noch, werden als Talent gesellschaftlich gar nicht wahrgenommen und geschätzt. Man versuche, wie oben gesagt, nur mal auf einer solchen Bühne zu dichten oder aus einem Text vorzulesen. Man wäre dem Spott ausgesetzt, das Talent wäre der Brüller des Augenblicks, würde als Unsinn abgetan.

Einfallslosigkeit als Talent; Kreativität als Talentfreiheit
Kreativität geht begrifflich auf das lateinische Wort creare zurück. Das bedeutet so viel wie erzeugen, erfinden, herstellen oder erschaffen. Eine Schöpfung ist wörtlich betrachtet das, was der Kreative hervorbringt. Es ist sein Produkt - was sich von producere ableitet und in etwa hervorbringen bedeutet. Unter üblichen Gesichtspunkten wertet man den kreativen Akt durchaus als etwas, was Talent voraussetzt. Da in der Kreativität, im creare, auch das crescere, das Wachsen, steckt, kann man davon ausgehen, dass das Herauswachsen eines Geschicks aus einem Menschen, durchaus eine Talentierung voraussetzt.
Die Reproduktion setzt zwar Geschicklichkeit und Begabung voraus, reduziert sich aber auf Finger- oder Stimmfertigkeit, isoliert oder absorbiert die Kreativität. Im Falle von gesuchten Supertalenten heißt das, dass sie vornehmlich unkreativ sind, ideenlos und monoton. Sie äffen fingergeschickt nach, sie kopieren stimmgewaltig - belegen läßt sich das damit, dass bei Castingshows auftretende Sänger nicht selten ihr Idol imitieren, nicht selbst stimmlich in Erscheinung treten, sondern beispielsweise einen Joe Cocker-Ersatz feilbieten. Das Singen ist hier lediglich ein im Kehlkopf lagerndes Handwerk, das den letzten Rest kreativen Gespürs aufspürt. Beifall ist aber auch hier sicher. Produzierende Talente sind von den Castingkonzepten fast völlig ausgeschlossen - bestenfalls akzeptiert, wenn der Produzent gleichzeit Reproduzent sein kann, wobei stets eine stärkere Gewichtung auf die Reproduktion gelegt wird.
Talentierte Köche sind nichts als gute Handwerker
Das Casting von Talenten, wie wir es im Fernsehen seit Jahren sehen, ist nicht wirklich die Sichtung von Begabung, sondern die Durchsicht von Fähigkeiten, die unter dem Gesichtspunkt gesellschaftlicher Konvention, was soviel heißt wie: medial vorgegeben, zum Talent erklärt werden. In anderen Zeiten wären nicht Sänger oder Pianisten vor eine Jury getreten, um ihr Talent und ihre damit verbundene Kreativität unter Beweis zu stellen. Man hätte sie nur als ausführende Organe angesehen, die nun akustisch machten, was sich ein Musikschaffender erdacht hatte. Und kein Sänger wäre in jenen Zeiten Juror gewesen, wie man das heute manchmal sieht. Man hätte einem reproduzierenden Protagonisten keinerlei fachliche Qualitäten eingeräumt. Ein Casting hätte damals sein Hauptaugenmerk auf andere Aspekte gelegt, auch, weil Musik nur eine Augenblickserscheinung war, nicht durch Aufzeichnung gesichert werden konnte. Der Sänger oder Instrumentalist war nur Momentaufnahme, derjenige, der sich der Nachwelt durch Aufschreiben erhalten konnte, erntete die Anerkennung und jenen irren Applaus, den man manchmal in heutigen Castingshows beobachten kann.
Vergleichbar wäre diese Umdeutung von Talent und Kreativität damit, dass man jemanden, der Gerichte aus einem Kochbuch eines Sternekochs gut und schmackhaft nachkochen kann, durchaus attestieren würde, er könne ausgezeichnet kochen - ein Sternekoch ist er deshalb noch lange nicht. Hierzu bedarf es mehrerer Qualitäten, das Kochen alleine, das Handwerk also, es ist nur ein Punkt im Spektrum der Fachlichkeit. Man kann beim Laien, der schmackhaft kocht, vielleicht nicht mal von Begabung sprechen, denn was er da tut, es ist Handwerk, ist erlernbar. Nuancierte Geschmacksabstimmungen beispielsweise beherrscht er normalerweise nicht. Er kann ein guter Handwerker sein, so wie ein reprodukzierender Musiker ein guter Hand- und Stimmwerker sein kann. Niemand käme aber auf die Idee, einen solchen Laienkoch zum Superstar oder Supertalent erklären zu wollen.
Talentierte Fragen
Der Talentbegriff beinhaltet heute so gut wie nur noch Reproduzierer. Der kreative Akt ist beschränkt auf das Kopieren von schon vorhandener Musik. Sie singen zwar mit eigener Stimme, aber fremde Kompositionen. Die Castingshows, die das Fernsehen füllen, kennen keine Talente, die produktiv und letztlich kreativ sind. Sieger solcher Shows bringen Alben heraus, auf denen sie Musik anderer Leute nachsingen. Dennoch gilt als Talent, was eigentlich den kreativen Akt entbehrt. Talentshows verweigern sich dem produzierendem Part - wahrscheinlich auch, weil dieser Aspekt das Publikum langweilte. Dennoch bleibt die Frage: Kann man von Supertalenten sprechen, wenn sie nur organische Tonbänder und Abspielmechanismen sind? Und: Veredeln wir nicht bestimmte Seiten der Musik mit außerordentlichen Talentpotenzial, während die andere Seite zu Unrecht vernachlässigt und vergessen wird? Vergessen wir mit dieser Agendasetzung in Sachen Talent nicht die Wurzeln aus denen Musik kommt - den Geist nämlich, diesen ideellen Antrieb, die rhythmische Verarbeitung von Erfahrung, Erleben und Sorgen? Eine ganze Branche also als Anhängsel von so genanntem Talent, das ohne diese Branche nichts weiter als das Pfeifen im Walde wäre?
Talent, wie wir es heute begrifflich verwenden, leitet sich vom Gleichnis von den anvertrauten Talenten ab, nachzulesen bei Matthäus und Lukas. In dem erhalten Diener einige Talente Silbergeld und mehren diese. Talent zu haben, so rekrutierte es sich aus diesem Gleichnis, bedeutete also vornehmlich, Nutzen aus materiellen Gütern zu erzielen. So gesehen ist der Talentbegriff, wie man ihn in Castingshows verwendet, doch nicht ganz falsch. Man darf Talent vermutlich nicht mit Beseelung und Begabung verwechseln, mit der Kunst, etwas formvollendet zu beherrschen, mit einem geistigen Akt - dort wo wir unseren Talentbegriff her haben, ging es nicht um Geist, sondern um Materielles.


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