Glauben

Glauben
Markus schaute aus dem Fenster. Von hier aus zeigte sich ihm ein traumhafter Blick über die Dächer der Stadt. Der Schnee fiel sacht vom Himmel. Ein so friedliches Bild. Er seufzte leise.
Plötzlich ging die Sprechanlage los. Seine Sekretärin Claire befand sich am anderen Ende. Seine Perle.
„Brauchen sie mich noch Markus?“
Sie wollte nach Hause. Ihre Tochter Finja war ein kleiner Wirbelwind und wartete sehnlichst auf den Weihnachtsmann. Dort versammelte sich auf jeden Fall bereits die ganze Familie und nur sie fehlte. Sie würden Kartoffelsalat mit Würstchen essen, Weihnachtslieder singen und danach die Geschenke auspackten.
„Markus?“, summte erneut die Anlage.
„Geh ruhig Claire. Ich bin hier auch gleich fertig.“
„Super und frohe Weihnachten.“
„Danke. Ein entspanntes Weihnachtsfest dir und deiner Familie“, sagte er leise zurück. Ein Wunsch, den er gerne wieder erleben wollte.
Seit Jahren versteckte er sich an Heiligabend hinter einem Berg aus Arbeit. Markus hatte den Geist der Heiligen Nacht verloren. Schon vor langer Zeit. Eine große Dummheit, die er da gemacht hatte und deswegen sprachen seine Eltern nicht mit ihm. Er machte sich selbst die größten Vorwürfe. Nach Hause gehen konnte er nicht, er musste seine Schwester beschützen, und das konnte er nur, wenn er ihre Nähe mied. Er dachte oft, dass es für alle so am Besten war.
Und seit diesem Vorfall hatte er seine kleine Schwester Klara nicht mehr gesehen. Das war jetzt schon 17 Jahre her. Wie es ihr wohl so ging? Jedes Jahr fragte er sich, wie lange noch. Sie war krank. Sehr krank. Sie würde nie ein normales Leben führen können. Aber er liebte sie und sie ihn. Wie seine Eltern es schafften, ihr immer wieder zu erzählen, wieso er nicht kam, wusste er nicht.
Markus wollte ihr damals, er war fast 19 und seine Schwester 11, nur eine Freude machen und ihr den Wunsch zu Weihnachten erfüllen. Raus in den Schnee. Klara mochte die weiße Pracht, wenn sie vom Himmel fiel. Also zog er sie warm an und legte ihr eine Wolldecke auf die Beine. Dann schob er den Rollstuhl, in dem sie saß, nach draußen auf die Straße. Sie freute sich wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal das nasse Weiß sah. Klara ließ die Flocken auf ihr Gesicht fallen und kostete sie. Das war mehr, als sie sich je gewünscht hatte und sein Herz quoll über. Der Schnee beglückte sie so sehr.
Sie waren schon ein ganzes Stück vom Haus entfernt, als der Rollstuhl sich verhakte und umkippte. Markus sah mit an, wie seine Schwester auf den Boden fiel. Auch wenn sie weich in eine Schneewehe stürzte, blieb er für einen Moment starr vor Schreck. Er versuchte den Rolli, wie Klare ihn nannte, wieder loszubekommen, aber er schaffte es nicht. Klara musste nach Hause und das ganz schnell. Stracks schlug er ihr die Decke um den Körper und hob sie auf.
„Mir ist so kalt Markus“, flüsterte Klara frierend an seiner Brust.
„Ich bring dich nach Hause Kleines. Keine Angst wir sind gleich da.“ Markus machte sich Sorgen. Sie war so empfindlich. Ihr Immunsystem kaum vorhanden. Er hätte niemals ihren Wunsch nachgeben dürfen. Also versuchte er schneller zu gehen, was mit der Last auf seinen Armen nicht so leicht war. Keine 10 Minuten später, die ihm wie eine kleine Ewigkeit vorkamen, war er endlich zu Hause. Markus öffnete die Tür und brachte Klara sogleich nach oben in ihr Zimmer. Er legte sie ins Bett und packte alle Decken, welche er finden konnte, um sie. Klara aber konnte das Zittern nicht abstellen und hatte bereits angelaufene Lippen. Schnell rannte Markus in die Küche und machte Tee. Er verzweifelte in seiner Panik fast am Wasserkocher. Er wollte nicht, das Klara was passierte. Das würde er sich nie verzeihen können.
Als seine Mutter und sein Vater nach Hause kamen, hatte Klara bereits hohes Fieber bekommen und war kaum ansprechbar. Lungenentzündung vermutete der Arzt eine halbe Stunde später. Beide machten ihn die größten Vorwürfe und warfen ihn aus dem Haus. Sie waren so wütend auf ihn, dass sie Markus nicht sehen wollten. Natürlich machten sie ihn dafür verantwortlich. Verständlich. Ihm war das klar. Auch das der Rauswurf eine völlig falsche Entscheidung war. Seine Eltern meinten es nicht so. Dennoch.
Und so vergingen die Zeit und Markus gab es auf. Vier ganze lange Jahre.  Inzwischen war ein erfolgreicher Unternehmer. Eines Tages lief er dem Arzt über den Weg, der damals seine Schwester behandelte: Klara war mit einer Erkältung davon gekommen. Es brachte ein wenig Erleichterung mit sich, Zufriedenheit stellte sich allerdings nicht ein.
Dennoch vermisste er seine Familie. Gerade jetzt zu Weihnachten. Wie immer zu Heiligabend. Besonders Klara. Seine kleine Schwester.
Er ging zur Bar und starrte die Flasche im Regal an. Es war die Einzige, die hier stehen dürfte und sie wartete ein ganzes Jahr darauf, geöffnet zu werden. Er schenkte sich einen Maltwhisky ein. Schnell stürzte er ihn hinunter, um die Gedanken zu vertreiben. Gelingen würde es ihn aber auch in diesem Lebensjahr nicht. Deswegen gönnte er sich nur zu Weihnachten das Vergnügen, sich komplett zu betrinken. Er nahm die Pulle mit zur Tür. Er war auf den Weg zu seinem Penthouse.
Dort angekommen stellte er sich wieder ans Fenster und schaute dem Schneetreiben zu. Es sah schön aus. Die ganze Stadt war beleuchtet und alles sah so warm aus. Vereinzelt sah er noch ein paar Gestalten durch die Straßen huschen. Jeder wollte nur noch nach Hause zu ihren Familien. Dort würde es heimelig und gemütlich sein.
Gedanken verloren sah er nach draußen. Markus wusste, was er gleich tun würde. Er würde sich seinen Mantel schnappen, die Flasche in die Tasche stecken und dann zum Haus seiner Eltern laufen. Der Whisky würde ihn warmhalten. Zumindest für den Augenblick.
Und genauso kam es auch. Er machte sich auf den Weg. Vor dem Gebäude seiner Familie blieb er stehen und schaute durch das Fenster. Er sah seine Eltern zusammen auf dem Sofa sitzen. Sie hielten sich an den Händen. Ein Bild, das er jedes Jahr aufs Neue sah. Sein Blick schweifte weiter, bis er Klara fand. Sie saß wie immer in ihren Rollstuhl und umschlang ein Geschenk auf ihren Schoß. Markus stellte sich vor, wie ihre Augen leuchteten und ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. Sie konnte sich so freuen. Auch wenn es nur eine Kleinigkeit war.
Seine Finger griffen in seine Tasche, als er überraschend ein Klingen vernahm. Woher das kam? Leicht runzelte er die Stirn und horchte angestrengt in die Dunkelheit. Seine Hand verharrte und strich über die Flasche, bevor er sie zurückzog. Seltsam. Der Ton klang so echt, so warm, so nur für ihn. Plötzlich kämpfte er mit den Tränen. Markus wusste nicht, was ihm geschah, als er weit entfernt auch noch Weihnachtsmusik hörte. Sicher spielte an irgendeinem Platz in der Nachbarschaft jemand eine CD ab.  Tapfer versuchte er die Tränen weg zublinzeln, es gelang ihm nicht und er schaute nach oben. Und so wie eins der Stern über Bethlehem wanderte, sah er ein Licht am Himmel scheinen. Überraschend berührte ihn diese seltsame Anhäufung von Zufällen und überrumpelt von seinen Gefühlen schluchzte er auf.
Es konnte nichts sein, vielleicht ein Flugzeug, das landen wollte, aber in dem Moment war es wie ein Zeichen. Er nahm die Flasche und schmiss sie weit von sich. Dann zog er den Mantel fester um sich. Die Kälte sollte ihn nicht erreichen. Kurz zögerte er, doch schließlich setzte er sich in Bewegung. Langsam, Schritt für Schritt, kam er der Tür seines Elternhauses näher. Und schon befand er sich davor und klingelte, bevor er überhaupt darüber nachgedacht, seine Hand zurückgezogen hatte oder umkehren konnte.
Hinter der Tür hörte er Schritte und dann öffnete sich die Tür. Seine Mutter stand mit großen Augen da.
„Oh meine Güte, Markus?“ Erschrocken hielt sie die Hände vor ihr Gesicht und Markus hörte nur leise seinen Namen. Sie weinte.
„Markus? Markus bist du das?“ Klaras zarte Stimme kam aus dem Wohnzimmer und Markus hörte im Hintergrund klassische Weihnachtsmusik. Es war für ihn der schönste Klang, den er je gehört hatte. Die Tränen rannen ihm übers Gesicht.
Und dann lag er erst in den Armen seiner Eltern und dann kniete er vor Klara. Markus hielt ihre Hände und ihr Lachen erhellte den Raum. Sie lachte und freute sich so ihn zu sehen. „Nun bist du endlich gekommen, du Dummerchen. Nun bist du wieder zu Hause.“

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