Gestern im Tagebuch

22. Sept. 15, Dienstag, es ist gleich sechs Uhr
Gestern im TagebuchLiebes Tagebuch,alles hat eine Wendung genommen. Bis vor einigen Wochen sah es sehr schlecht um mich aus. Das hat mich betrübt. Aber jetzt bin ich gerade dabei, mich zu retten. Deswegen habe ich mich so lange nicht mehr bei dir gemeldet. Ich war halt beschäftigt. Musste am Ansehen meiner Kanzlerschaft arbeiten. Auch im Hinblick auf die Zukunft. Es gibt jetzt viele Flüchtlinge. Und ich habe mich entschlossen, mich um sie zu kümmern. Diese Leute kommen gerade richtig. Ausgerechnet als mein Stern im Sinken war, schlagen sie hier auf. Das ist eine Fügung des Schicksals, die nicht zu ergreifen fahrlässig wäre. Nach Fukushima dachte ich nicht, dass eine erneute politische Sackgasse ein Schlupfloch für mich bieten würde. Doch ich bin ein Glückskind. Wieder etwas, womit es sich profilieren lässt. Jetzt blicke ich wieder nach vorne.

Viele Menschen nehmen mir jetzt allerdings nicht ab, dass ich Emotionen gefunden habe und es wirklich aufrichtig meine mit den Flüchtlingen. Ich kann es ihnen nicht verdenken, denn ich nehme mir diese Rolle selbst kaum ab. Aber sie werden schon sehen. Ich werde mich kümmern, werde die Flüchtlingskanzlerin sein und Europa meinen Willen aufzwingen. Wie gehabt. Nur eben nun für andere Ziele. Was nicht heißt, dass ich die Ziele, die ich bislang in Europa durchgedrückt habe, nicht auch weiterhin verfolgen werde. Joachim hat mich auf den Gedanken gebracht. Er hat neulich mal gesagt, jetzt müsse irgendwas geschehen, was dich in ein neues Licht rückt. Dann reichte er mir einen Stapel mit Tagespresse, legte ihn mir an den Badewannenrand und ich machte es mir gemütlich. Der Schaum prickelte auf den Poren und ich nippte am Mineralwasser. In einer dieser Zeitungen schrieb ein Kolumnist, dass die Bundeskanzlerin nun handeln müsse in der Flüchtlingsfrage. Huch, das war ja ich!, dachte ich mir. Und dann dachte ich an Joachim und rief aus: Da haben wir es ja! Das ist das neue Profil, das ich brauche.
Ich fuhr dann in dieses sächsische Dorf. Erst wollte ich nicht. Was hatte der braune Mob mit mir zu tun? Aber alle drängten mich so. Und nach der Erkenntnis in der Badewanne wusste ich, dass dieser Schritt sogar notwendig würde. Die Menschen sollten doch endlich sehen, dass ich aus Fleisch und Blut bin und fürsorglich und voller Gefühle. Das mit dem kleinen Flüchtlingsbalg vor einigen Wochen ist mir allerdings leider reichlich entglitten. Joachim meinte, ich hätte freundlicher auftreten sollen. War ich doch! Keiner versteht mich. Er meinte ferner, das sei nicht die Art von Freundlichkeit, die die Leute liebten. In Flüchtlingsunterkünften gibt es nun viele Möglichkeiten, um meine neue Freundlichkeit anzuwenden. Insofern ein Paradies zur Politur meiner Amtszeit. Überall kann ich lächeln und Hoffnungen aussprechen und den Leuten die Hand schütteln. Selfies inklusive. So werden die Wähler vergessen, wie ich die Geschichte mit den Geheimdiensten sabotiert habe. Sie werden meine unbeliebte europäische Politik vergessen. (Die war ja auch beschissen, aber was soll man tun, wenn man regieren will und die Konzerne mit schlechter Presse drohen?) Und meine zugegeben manchmal grauenhafte Personalpolitik wird ihnen auch gleich aus dem Gedächtnis entfallen. Da gibt es so viel. Und diesmal mache ich es besser als bei Fukushima, werde dranbleiben und das Thema nicht in die Hände eines dicken Sozialdemokraten geben, damit der das wieder verwässert und entemotionalisiert.

Nein, jetzt beginnt die gefühlvolle Kanzlerschaft; ich werde sie alle herzen, bis in den Geschichtsbüchern steht, dass ich eine nette und gute Person war. Brandt hatte historisches Glück. Er konnte auf die Knie fallen und damit unsterblich werden. Die Flüchtlinge sind mein Glück. Sie sind mein Kniefall. Ich bin ihnen dankbar. Werde deshalb aber nicht gleich auf die Knie fallen. Trotzdem möchte ich natürlich die Zuwanderung drosseln. Wohin mit den Leuten? Die, die da sind, die reichen doch auch aus, um damit mein Image aufzuhübschen. Wenn jetzt nochmal so viele kommen, werde ich deswegen auch nicht freundlicher bei den Deutschen ankommen. Und natürlich müssen wir auch sehen, dass man manche von ihnen wieder abschiebt. Sie sollten aber gerade so lange im Land bleiben, um mir etwas Spielraum zur guten PR zu geben.
Liebes Tagebuch, irgendwann kommt die Zeit, da die Menschen wieder eine effektivere Abschiebepraxis fordern. So sind meine Deutschen schon immer gewesen. Heute jubeln sie am Bahnhof, wenn Menschen aus Krisengebieten anrollen und morgen schreien sie, dass sie genug haben und wieder ihre Ruhe wollen. Das Jubeln am Bahnhof fand ich übrigens total daneben. Muss man denn alles mit Freude versauen? Da bin ich wahrscheinlich zu sehr Puritanerin. Na jedenfalls, irgendwann wollen sie Abschiebungen, da bin ich mir sicher. Und dann muss ich den richtigen Zeitpunkt finden, um Anschluss zu halten. Wegen der nächsten Wahlen. Nur darf ich deshalb mein Herz für Flüchtlinge nicht verlieren, wenn es mal so weit ist. Ich will ja auch all diese Gutmenschen mit Wahlrecht bei Laune halten. Ich sehe es so: Abschiebungen sind kurzfristige Maßnahmen zur Wiederwahl; Flüchtlingshilfe ist eine langfristige Initiative zur Profilierung in den Geschichtsbüchern. Beides ist mir wichtig, denn ich bin jetzt in einem Alter, in dem ich auch für die Ewigkeit planen möchte. Klar sind Wahlsiege schön. Aber irgendwann sollen die Menschen an mich denken und schwelgen und mich »die gute alte Zeit« nennen. Mir wird nicht widerfahren, was dem Dicken zugestoßen ist.
Nun werde ich diesen Eintrag beenden. Joachim hat Grünkohl gekocht, gleich wird er mich rufen. Und außerdem muss ich mich noch auf ein strategisches Gespräch mit der Verteidigungsministerin vorbereiten. Diese unmögliche Person will neue Gewehre für die Bundeswehr. Und das ausgerechnet jetzt, da ich Deutschland zur Idylle auf Erden mache und diesem Platz ein gütiges Gesicht verleihen will. Sie hat ja recht, wir brauchen eine schlagkräftige Truppe, aber doch nicht jetzt, wo wir friedliche Weltsozialarbeiter sein wollen. Sie hat kein Gespür für Kampagnen und kein Taktgefühl. Alles hat seine Zeit. Irgendwann müssen wir wieder Militäreinsätze fordern. Aber nicht jetzt. Deshalb wird diese Person mir nie ins Amt folgen können. Ihr fehlt das Zeug dazu. Sie weiß nicht, wann sie die Ansichten annehmen muss, die ihr die Öffentlichkeit auferlegt. Aber ich lasse sie weiterhin vom Kanzleramt träumen. Jeder braucht Ziele. Neue Gewehre und Schlagkraft und die Umsetzung von des Bundespräsidenten ewiger Parolen vom Engagement in der Welt, bringen ehrlich gesagt ja auch Vorteile mit sich: Man schafft Flüchtlinge. Und exakt das ist mein Markt, hier wird meine Unsterblichkeit geboren. Sie sind mein persönlicher Kniefall von Warschau. Nur eben nicht in Warschau. Das Schicksal meint es gut mit mir. Ich kann nicht klagen.
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