Geschichte zweier Spiele, Teil 2/2: Assassin's Creed Revelations

Von Stefan Sasse
Assassins Creed Revelations Cover.jpgNachdem wir uns im ersten Teil des Artikels angesehen haben, wie in einem auf Blockbuster-Kino getrimmten Actionspiel äußerst fragwürdige Werte vermittelt werden können und werden, soll nun ein positives Beispiel folgen. "Assassin's Creed Revelations" ist der vierte Teil der Assasssin's-Creed-Reihe (diverse Minispiele und Gameboy-Ableger nicht mitgerechnet). Der Spieler steuert ein Mitglied der geheimen Vereinigung der Assassinen aus der 3rd-Person-Perspective, die Nicht-Videospielern vor allem aus Tomb Raider geläufig sein dürfte: die meiste Zeit schaut man von hinten auf die Spielfigur. Der Fokus liegt bei Spielen dieser Art häufig mehr auf dem Klettern und Bewegen als auf dem reinen Gefecht, aber das ist mehr eine Tendenz als eine Regel (wie Titel wie "Space Marine" oder "Gears of War" bestätigen). Nachdem diese Eingangsfragen geklärt wären wollen wir uns nun direkt in medias res begeben. Was lässt Assassin's Creed dort wesentlich besser dastehen, wo Modern Warfare ein äußerst flaues Gefühl in der Magengrube zurücklässt? Immerhin spielt man hier einen Meuchelmörder. Um das zu verstehen, muss erneut die Geschichte bekannt sein. 
Die Grundprämisse ist die folgende: durch die gesamte Weltgeschichte hindurch haben die Geheimorganisationen der Templer und der Assassinen sich gegenübergestanden und bekämpft. Der Hauptcharakter des Spiels, Desmond, wird von den Templern entführt, um in einem neuartigen Gerät auf die in der DNA jedes Menschen codierten Erinnerungen seiner Vorfahren zurückzugreifen und sie erneut zu durchleben. Dies ist deswegen notwendig, weil Desmonds Vorfahr Altair, ein Assassine aus der Kreuzzugszeit, im Besitz eines Artefakts namens "Apfel von Eden" war, der wohl über gewaltige Macht verfügt, und diesen versteckt hat. Die Templer wollen erfahren, wo der Apfel steckt. Als Altair muss der Spieler neun Morde an hochrangigen Templern durchführen, deckt dabei eine Verschwörung auf und muss gleichzeitig versuchen, in der Jetzt-Zeit herauszufinden was vor sich geht. Am Ende erfährt er nicht wo das Artefakt ist, wird aber von einer Assassinengeheimagentin gerettet (erstes Spiel). Für die Assassinen lebt Desmond dann die Erinnerungen des Renaissance-Italieners Ezio Auditore nach, der herausfindet, dass es mehr Artefakte als nur den Apfel von Eden gab und dass diese von einer Zivilisation geschaffen wurden, die vor den Menschen da war. Gleichzeitig muss er eine Verschwörung der mit den Templern verbündeten Borgia aufdecken (zweites Spiel). Auf der Spur der Borgia-Verschwörung geht Ezio dann nach Rom, wo er die Machenschaften der Borgias zu beenden versucht. Dazu baut er sich seine eigene Assassinenorganisation auf. Am Ende gelingt es ihm, den Apfel in seinen Besitz zu bringen. Mit der Hilfe seiner Macht kann er sich letzten Endes gegen die Borgia durchsetzen und ihn dann verstecken. Diese Informationen reichen Desmond in der Gegenwart, um den Apfel zu finden und an sich zu bringen. Es gelingt Desmond, Kontakt zu Vertretern der ersten Zivilisation aufzunehmen. Diese können ihn jedoch übernehmen und bringen ihn dazu, seine Assassinenkollegin zu erstechen, bevor er bewusstlos zusammenbricht (drittes Spiel). Sein Geist ist daraufhin in der Maschine gefangen, und er muss diverse Erinnerungen seiner Vorfahren Ezio und Altair durchleben, da diese ihm wohl etwas zeigen wollen, ehe er sich final befreien kann. In diesen Erinnerungen, in denen die beiden Assassinen bereits sichtlich gealtert sind, ist Ezio in Konstantinopel damit beschäftigt, die Schlüssel zum Öffnen der Bibliothek Altairs zu finden, in der er weitere Hinweise auf die Rätsel der ersten Zivilisation vermutet. Gleichzeitig versucht Altair, den Kampf gegen die Korruption seines Ordens zu gewinnen. Am Ende hat Desmond die Erinnerungen zusammengepuzzelt und kann die Botschaft der ersten Zivilisation entschlüsseln (viertes Spiel). 
Assassins Creed brotherhood cover.jpgIm Spiel selbst erfüllt der Charakter häufig irgendwelche Aufträge, an deren Ende die Ermordung irgendeiner wichtigen Person steht. Was also unterscheidet sich hier, abgesehen vom überwiegenden Gebrauch mittelalterlichen Hau- und Stechwerkzeugs, von "Modern Warfare"? Es ist vor allem ein grundlegender Unterschied im Ton. So sind die Charaktere von Assassin's Creed echte Charaktere, mit Schwächen und einer Charakterentwicklung, die diesen Namen verdient. Altair beispielsweise ist am Anfang ein reiner Anhänger der "coolen" Effekte seines Daseins und schnetzelt sich ohne Rücksicht durch, um sein Ziel zu erhalten - weswegen er gleich zu Beginn des Spiels bestraft wird und alles von Neuem lernen muss, besonders Dinge wie "töte keine Unschuldigen". Auch Ezio muss die Verantwortung, die dem titelgebenden "Bekenntnis der Assassinen" innewohnt, erst langsam erlernen und verstehen. Es ist gerade dieses Bekenntnis, das die Story und die Charaktere von anderen Geschichten dieser Art so wohltuend abhebt.
"Nichts ist wahr, alles ist erlaubt", lautet die Botschaft, und Unbedarfte wie der junge Altair interpretieren dies gerne als Lizenz zum Töten. Immer wieder wird Charakter und Spieler aber erklärt, worum es wirklich geht: dass alle sozialen Konstrukte, mithin die gesamte Gesellschaft, von Menschen gemacht sind und keiner höheren Ordnung unterliegen. Einzig die Menschen sind für die Organisation ihres Zusammenlebens verantwortlich, und sie müssen die Verantwortung dafür auch übernehmen. Das ultimative Ziel des Ordens ist der Weltfrieden, durch die selbst bestimmte Befreiung aller Menschen erreicht. Dadurch setzen sich die Assassinen deutlich etwa von den großen Glaubensgemeinschaften ab, die deswegen auch häufig in der Gegnerrolle zu finden sind, und von ihren Erzfeinden, den Templern. Auch diese streben nach Weltfrieden, haben allerdings für sich die Einsicht gewonnen, dass dies nur durch eine klare hierarchische Ordnung und eine harte Hand zu erreichen sei, indem die Menschen kollektivartig organisiert und geleitet werden, um den Hobbes'schen "Krieg aller gegen alle" in geordnete Bahnen zu lenken.
Assassins Creed 2 Box Art.JPGDaraus resultieren aber nicht nur (im Spiel reichlich nebulös bleibende) politische Forderungen an die Freiheit und Selbstbestimmung. Es geht ebenfalls eine klare Botschaft an Toleranz und Miteinander einher, und diese Botschaft wird von dem Spiel mit einer Verve vertreten, die echte Überzeugung atmen lässt. Beispiel gefällig? Zu Beginn von "Revelations" kommt Ezio in Konstantinopel an; etwa um 1460. Die Stadt ist erst seit kurzem unter ottomanischer Herrschaft. Er wird abgeholt und eingeführt von Yussuf, einem örtlichen Assassinen, der selbstverständlich Muslim ist (im Gegensatz zum katholischen Italiener Ezio). Während Yussuf Ezio herumführt, wird Konstantinopel als ein wahrer Schmelztiegel der Kulturen vorgestellt, ein Gewirr von Sprachen, Gebräuchen und Religionen. Und keine Sekunde lassen Ezio, Yussuf und das Spiel irgendeinen Zweifel daran, dass das etwas inhärent Gutes ist. In diesem Konstantinopel funktioniert das Miteinander aller Menschen, egal an was sie glauben möchten. Es sind die Templer mit ihrer Vision von Einheit in Denken und Handeln, die dieses Utopia bedrohen.
Diese Darstellung ist den Designern im aktuellen Teil besonders brillant gelungen. Der sichtlich reife Ezio ist der ideale Träger einer solchen Geschichte. Die Verantwortung für das Bekenntnis der Assassinen und die Forderungen, die es an seine Träger stellt, lasten auf seinen Schultern, und er versucht auch immer wieder, es anderen näher zu bringen, besonders den Assassinen, die er im aktuellen Teil selbst ausbildet. Ebenfalls auffällig wird die einzigartige Heransgehensweise in den "großen" Auftragsmorden, die Altair und Ezio immer wieder durchführen, enden immer mit einer besondere Sequenz (die zahllosen Wachen, die beständig ins Gras beißen müssen weil sie schlicht im Weg sind, sind dabei eher der Spielmechanik geschuldet. Würde man sie unter die "Töte keine Unschuldigen" Definition fassen, würde das Spiel wohl nicht mehr funktionieren, weswegen dieses heiße Eisen leider unangefasst bleibt). In dieser Sequenz, nach dem Todesstoß, hört sich der Assassine stets noch die letzten Worte seiner Opfer an. Ezio betont im aktuellen Spiel, von einem seiner Schüler nach dem Warum befragt, dass jeder Mensch ein Recht darauf habe, in seinen letzten Augenblicken etwas Freundlichkeit zu erfahren, ganz egal was für ein schlechter Mensch er vorher war - Menschenwürde, als Thema ins Spiel transferiert. Solche Vorstellungen sucht man bei Modern Warfare vergebens, wo man den Oberterroristen am Ende allen Ernstes per Mausklick erwürgen muss. Auf eine solche Idee wäre Ezio niemals gekommen.
Assassin's Creed.jpgDie Reaktionen der Umwelt auf Ezio, die Assassinen und ihr Bekenntnis sind dabei sehr unterschiedlich. Manche erkennen in ihren letzten Momenten ihren Fehler, verstehen erst dann die Vorteile des Bekenntnisses gegenüber der attraktiven Macht- und Ordnungsvision der Templer. Andere bleiben hart, wieder andere spucken persönliche Verwünschungen aus. Dem Assassinen macht es keinen Unterschied, er behandelt alle Menschen gleich. In einer der letzten Sequenzen des neuen "Revelations" hat Ezio endlich herausgefunden, wer der Kopf hinter der lokalen Verschwörung ist (Achtung, Spoiler): der designierte Sultan, ein weicher Mann. Das Interessante ist, dass wir ihn zu Beginn der Storyline anders erleben. Der Hintergrund ist, dass der aktuelle, alte Sultan zwei Söhne hat, einen brutalen, kriegerischen, und einen gebildeten, weichen. Die Janitscharen bevorzugen den Krieger, aber Sultan hat seinen gebildeten Sohn zum Nachfolger bestimmt. Seine Umwelt, die beständig Härte verlangt und ihm die Befähigung zum Herrschen abspricht ist es erst, die ihn in die Hände der Templer und ihrer Machtvision treibt. Solch komplexe Motive kennen die Russen des Modern-Warfare-Universums nicht; sie sind böse, weil es nun einmal jemand Bösen braucht. Konsequenterweise versucht Ezio auch, den designierten Sultan nicht zu töten, und als er ihn schließlich besiegt und damit seinen brutalen, kriegerischen Bruder an die Macht bringt, lässt das Spiel keinen Zweifel daran, dass er damit zwar seine eigene Sache befördert, den Menschen der Region insgesamt aber wohl einen Bärendienst erwiesen hat. Solche moralisch ambivalenten Situationen finden sich in der Serie immer wieder.
Es sind diese Qualitäten, die "Assassin's Creed" jenseits aller spielerischen Qualitäten und Schwächen zu dem deutlich überlegenen Spiel machen. Ich weiß nicht, ob die Designer sich dessen bewusst waren, aber es existieren deutliche Parallelen zu "Königreich der Himmel" (siehe meine Besprechung hier). Man erwartet fast, dass Orlando Bloom um die Ecke kommt, um Altair zu erklären, dass Jerusalem ein Königreich des Gewissens oder gar nicht sei. Die beiden könnten sofort Freunde sein. Ich hatte beim Spielen beständig das Gefühl, dass mir "Assassin's Creed" etwas mitteilen möchte, etwas Bedeutsames und Wichtiges, und dies ist auch der Fall. Es ist eine Botschaft von Toleranz, Miteinander und Freiheit. Ob sie jeder Spieler zwischen alle dem Springen, Klettern, Hauen und Stechen auch mitbekommen wird, sei dahingestellt. Es ehrt die Jungs von Ubisoft allerdings, mit welcher Konsequenz und Durchsetzungskraft sie ihre Botschaft in den Spielen verankert haben. Und es lässt die Entwickler bei EA im Gegenzug umso schäbiger aussehen, die sich nur darauf beschränken, mit einem patronengeschwängerten Machoismus auf entmenschlichte Pixel-Russen und -Afrikaner zu schießen. Ich habe mir heute jedenfalls den ersten Teil der "Assassin's Creed"-Reihe erneut installiert. Mit "Modern Warfare" wird das sicher nicht passieren.

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