Gelesen – Nicola Karlsson: Tessa

Morgen. Morgen wird sie anfangen, ihr Leben in Ordnung zu bringen. Plötzlich verspürt sie Hoffnung. Alles wird gut. Morgen. Sie setzt sich wieder auf ihr Rad, fährt am Hackeschen Markt entlang, beobachtet die Touristen, die mit ihren Wein- und Biergläsern in Gruppen unter Heizpilzen sitzen. Sie würde jetzt auch gerne was trinken, nur heute noch.

Aus demcover-tessa Heute wird ein Morgen und daraus wieder ein anderer Tag – bis Tessas Leben zu einem langen Wochenende wird: Aufwachen am Morgen, weiterschlafen und wieder wach werden, wenn es dunkel ist, Wein trinken, sich durch Klamottenberge in ihrer Wohnung wühlen, ausgehen, feiern und irgendwo wieder aufwachen.

Dabei sah Tessas Leben in Berlin einmal anders aus: Die 28-jährige hatte Modelaufträge und war mit Nick zusammen. Die glückliche Tessa lernt der Leser jedoch nicht kennen, sie trinkt bereits fast täglich Alkohol, legt es darauf an, mit fremden Männern zu schlafen, obwohl sie Nick hat, und vernachlässigt ihren Job, für den sie von zu Hause aus Telefoninterviews führt. Der Roman setzt also nicht auf eine Fallhöhe, sondern, wie Tessa aus einer schlechten Phase nicht mehr heraus findet und ihr das Leben langsam entgleist.

Ihre Tagesabläufe werden schnell vorhersehbar und monoton, sodass sich Formulierungen oft wiederholen. Wie Tessas Art zu denken, bleiben die Beschreibungen oberflächlich und sind in der Wortwahl nicht immer passend: Laut krachend, hastig schlingen, „Sie fängt vor Selbstmitleid an zu heulen“, „Ganz tot und voller Depression knüllt sie das Geld in ihre Handtasche“.

Die Distanz, die die personale Perspektive erzeugt, führt Tessa vor. Der Leser beobachtet das unvermeidliche Elend mit Kopfschütteln, mitzufühlen fällt da schwer: wie sich Tessa in die Arme fremder Männer wirft, Beruhigungsmittel und Antidepressiva nimmt, auf Toilettendeckeln Kokslinien zieht, erinnerungslos aufwacht, aufatmet, wenn sie endlich wieder Alkohol trinkt und dabei permanent unterdrückt, dass sie Hunger hat oder dass ihr schlecht ist.

Der Fall Tessa ist authentisch angelegt, aber nicht immer plausibel. Wenn die Bedingungen stimmen, ist es nachvollziehbar, wie Tessa so aus der Bahn geraten kann: Sie steht da ohne Arbeit, Perspektive und hat weder Partner noch Freunde, die sie auffangen oder denen sie bereit ist, zu erzählen, wie es ihr wirklich geht. Damit sind Grundbedingungen geschaffen, um abzurutschen. Doch es ist ein Unterschied (aber der Weg nicht weit), um von einem Durchhänger zu reden und im nächsten Moment auf den Abgrund zuzusteuern. Sicherlich spielen dabei Tessas Charakterzüge und Wahrnehmung eine Rolle, die ihr das Leben so entgleiten lassen. Doch dass dabei ihr familiäres Umfeld komplett ausgeklammert und mit keinem Wort erwähnt wird, ist unglaubwürdig. Außer einer Vergangenheit als Model scheint Tessa nichts zu besitzen: weder Erinnerungen an eine Familie noch an eine Kindheit. Damit wird sie mehr zu einem Fall als zu einer Figur.

Der Verlagstext beschreibt Tessa als „das Porträt einer oh Boy-Generation, die die Verantwortung für ihr eigenes Glück nicht selbst übernehmen möchte“. Hier wird offensichtlich Bezug genommen auf den gleichnamigen Film mit Tom Schilling aus dem Jahr 2012. In schwarz-weiß-Aufnahmen wird episodenhaft aus einem Tag im Leben von Niko Fischer erzählt, der seinen Weg im Leben noch nicht gefunden hat, stattdessen vor sich hin lebt, orientierungslos durch Berlin streift und auf Freunde, Bekannte und Fremde trifft. Dass der Fokus auf einer männlichen Perspektive – wie im Film – liegt, ist in der Gegenwartsliteratur allerdings anders. Die Suche der jungen Frauen nach Liebe und Beständigkeit, insbesondere in der Großstadt, ist ein Thema, das derzeit oft literarisch verarbeitet wird. Eine Auswahl habe ich unter dem Motiv Die Suche nach einer Konstanten zusammengestellt.

Fazit

Nicola Karlssons Roman Tessa nähert sich einem Phänomen unserer Zeit wie einer Fallstudie an: Der Roman zeigt den emotionalen, physischen und psychischen Abstieg einer jungen Frau in Berlin. Sie sehnt sich nach Liebe und Halt und verliert sich in Alkohol, Drogen und Affären. Bemerkenswert ist, dass keine Fallhöhe vom Glück zum Unglück dargestellt wird, sondern die Nuancen, die es zwischen einer schlechten Lebensphase und dem Weg in die abgründige Selbstzerstörung gibt.

Dieser Weg erzeugt mehr Verständnislosigkeit als Mitleid, da der Leser als Außenstehender zuschaut, wie sich Tessa kaputt macht. Trotzdem oder genau deshalb lässt Tessa nach dem Lesen nicht los. Ich habe mich oft noch gefragt, wer ihr hätte helfen können und wann der Punkt war, an dem sie hätte umkehren und ihr Leben ordnen können.

3,5 Sterne



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