Man sollte meinen, dass nur ein Jurist ohne Idee von Gerechtigkeit so etwas tun kann. Ohne zu hinterfragen, Papiere und Verträge aufzusetzen, die dem illegalen Waffen- und Drogenhandel den Weg ebnen. Doch laut Ich-Erzähler Max ist das kein Einzelfall: Ihnen allen fehle diese Vorstellung von Gerechtigkeit. Juli Zeh hat selbst Jura studiert und verwischt in ihrem Debütroman Adler und Engel aus dem Jahr 2001 moralische Grenzen und trägt globale Konflikte auf kleinem Raum aus.
Max arbeitet als Jurist in einer internationalen Kanzlei. Während der Arbeit ruft seine Freundin Jessie an und drückt den Abzug – Max hört den Kopfschuss mit. Das Zimmer, in dem Jessie lag, vernagelt er mit Brettern, verlässt das Haus nicht mehr und verkleinert seinen Koksvorrat. Eines Nachts ruft er bei Claras Radiosendung an und erzählt von Jessies Tod. Seitdem besucht ihn die Moderatorin regelmäßig, um ihn zum Thema ihrer Diplomarbeit zu machen. Clara studiert Psychologie und lässt Max Kassetten mit seinen Erinnerungen besprechen. Sie ist so versessen auf ihre Arbeit, dass sie Max von Leipzig nach Wien bringt, wo alles zwischen ihnen angefangen hat – Max, Shershah und Jessie.
Die beiden Freunde lernen Jessie im Internat kennen. Sie sie ist die Tochter eines großen Händlers und verkauft ihnen Drogen. Jessie verliebt sich in Schershah und weicht nicht von seiner Seite. Als sie die Ferien bei ihr zu Hause in Wien verbringen, gerät Max unfreiwillig in eine Drogenauslieferung nach Bari. Mit dem neuen Schuljahr verschwinden Jessie und Shershah. Max begegnet ihnen erst wieder, als er in der Kanzlei in Wien arbeitet. Was er jedoch nicht weiß: Der Leiter der Kanzlei und Jessies Vater arbeiten zusammen.
Je tiefer Max in die Gassen von Wien dringt, desto klarer werden seine Erinnerungen. Die Wissenslücken des Lesers füllen sich und es wird allmählich deutlich: Max ist Teil von etwas Großen, das er selbst nicht begreift. Er erinnert sich nur selektiv, vergisst, verdrängt und kokst immer wieder. Der Kern von Adler und Engel enthüllt sich nur langsam. Die Handlung ist komplex und wird in Rückblenden, durch die Tonbandaufnahmen sowie die Gespräche zwischen Max und Clara erzählt.
Der Leser rekonstruiert die Geschehnisse, ordnet sie ein. Dabei werden die Figuren plastisch, sie schillern und es formieren sich Abhängigkeiten und Täter-Opfer-Beziehungen.
Es war einer der glücklichsten Momente meines Lebens, sage ich, als ich ihn [Shershah] zusammengebrochen auf der Straße sah.
Er war einmal dein bester Freund, sagt Clara.
Stimmt, sage ich.
Du wirst dafür betraft werden, sagt sie.
Schon geschehen, sage ich. Jessie ist ebenfalls tot und das ist, als wäre sie zu ihm zurückgegangen, als hätte sie sich ihm wieder angeschlossen, und mir bleibt nicht einmal die Möglichkeit, selbst zu sterben, ohne dass es wieder nur ein dämliches Nachlaufen wäre.
Erste Meinungen über die Figuren muss der Leser revidieren und selbst Max stellt fest, dass er Shershah, Jessie und Clara falsch eingeschätzt hat.
Die Dialoge sind erfrischend, schlagfertig und bilden die Machtkämpfe zwischen Max und Clara sehr gut ab. Stilistisch arbeitet Juli Zeh mit Vergleichen und Metaphern, die nicht alle rundum gelungen sind, doch wenn sie die richtigen Worte gefunden hat, eine große Wirkung entfalten:
Der Hund trabt heran und trinkt den Rest Wasser aus dem Eimer. Er sieht eigentlich auch besser aus, wenn er nur nicht so mager wäre wie ein afrikanischer Ochse. Er legt sich neben Clara und auch ich lasse mich neben ihr nieder und jetzt sind wir beisammen wie eine kleine Familie und diese steinerne Stadt ist unser offener Kamin und die heiße Sommerluft das Feuer darin. Ich werde was erzählen.
Fazit
Adler und Engel ist ein intelligent konstruierter Erstlingsroman, der sich traut, moralische und juristische Fragen zu stellen, die in der Grauzone liegen. Juli Zeh beweist ein Feingefühl für globale Themen, interessante Konstellationen und spannende Enthüllungen. Es bleibt diffus, wer Täter, wer Opfer ist und wer Schuld trägt – es obliegt dem Leser, darüber zu urteilen.