„Je mehr man in der Öffentlichkeit über die Arbeitsweise der Geheimdienste weiß, umso eher können sich die Gewalttäter darauf einstellen. [...] Darum gehört die Aufklärungsarbeit auch vor allem in das zuständige Bundestagsgremium, das aber seinerseits geheim tagen muss.“ Mit dieser Aussage begründet Volker Kauder die Geheimniskrämerei seitens der Geheimdienste und auch der Regierungen um die Bespitzelungsaffäre in einem Interview im Spiegel. In genau die gleiche Kerbe schlägt die Argumentation der US-Regierung, die mit aller Vehemenz gegen die Whistleblower vorgeht. Snowden, Assange und Manning seien Kriminelle und Verräter, die die Sicherheit der Bürger (und somit laut Innenminister Friedrich das „Supergrundrecht“) und auch die Demokratie gefährden.
Diese Begründung ist sowohl inhaltlich wie auch von ihrer Intention ausgesprochen fragwürdig.
Selbstverständlich – es gibt sowohl bei der Polizeiarbeit wie auch in der Politik Vorgänge, die geheim bleiben müssen. Bei einem verdeckten Ermittler im Umfeld des organisierten Verbrechens oder rechtsradikaler Strukturen zum Beispiel hängt nicht nur der Ermittlungserfolg an der Geheimhaltung seiner Arbeit, sondern auch seine persönliche Sicherheit. Gleiches gilt für Geheimagenten, gerade wenn es um Terrorismus geht. Aber hierbei handelt es sich um konkrete operative Details und Namen von Personen. Ob grundsätzlich in diesen Bereichen ermittelt, beobachtet und überwacht wird, wer das Ziel solcher Überwachung ist, welche Methoden dabei zum Einsatz kommen – das alles darf aber keine Frage von Geheimhaltung sein, sondern muss ganz im Gegenteil offen bekannt, diskutiert und entschieden werden. Genau wie die Fragen danach, wo die Grenzen eines solchen Vorgehens liegen und wie die Kontrollmechanismen aussehen, die einen Missbrauch verhindern.
Debatte und Entscheidung über die grundlegenden Vorgänge gehören nicht hinter verschlossene Türen eines Sicherheitskabinetts, sondern ins Parlament. Sie müssen aber darüber hinaus auch dem Volk bekannt sein, das von diesem Parlament vertreten wird. Wenn diese Bereiche vor uns geheim gehalten werden (ganz egal, mit welcher Begründung das passiert), dann sind wir keine mündigen Bürger mehr, die Entscheidungen darüber treffen, wie die Gesellschaft aussehen soll, in der wir leben wollen. Dann werden wir auf die Rolle von Kindern reduziert, deren Eltern schon wissen, was gut und schlecht für sie ist.
Ein System, in dem verhindert wird, dass der Bürger mündige Entscheidungen treffen kann, darf sich nicht mehr Demokratie nennen. Das sind Züge eines totalitären Systems. Unsere Demokratie muss nicht vor den Bürgern geschützt werden, sondern vor Strukturen, die die Mündigkeit und Freiheit des Bürgers unterbinden.
Unsere Regierungen haben nicht nur bei der Überwachung offensichtlich jedes hinnehmbare Maß verloren, sondern auch in ihrem Vorgehen gegen diejenigen, die das bekannt gemacht haben. Die Begründung dafür ist Verrat und die Gefährdung unserer Sicherheit.
Nun hat Edward Snowden aber peinlich genau darauf geachtet, keine operativen Details preiszugeben, die Personen oder konkrete Einsätze gefährden könnten. Alles, was er veröffentlicht hat, betrifft ausschließlich das große Ganze. Das gleiche gilt für Chelsea Manning. Die Veröffentlichungen von Julian Assange waren hingegen insgesamt größtenteils banal und hatten kaum etwas zum Inhalt, was man nicht eh bereits aus der Presse hätte wissen können, wenn man sie aufmerksam genug gelesen hat.
Alle Drei haben also lediglich den Bürger die Informationen verschafft, auf die sie ein Anrecht haben müssen, wenn sie mündige Bürger sein sollen. Ebenso haben sie Missstände und Regelbrüche aufgedeckt, die Behörden und Politik uns bewusst vorenthalten und verheimlicht haben. Keiner von ihnen hat etwas verraten, was irgendjemand in konkrete Gefahr gebracht hätte – weder eine konkrete Person noch die Gesellschaft als solches. Im Gegenteil. Keiner der Drei verdient die Bezeichnung Verräter, auch wenn sie faktisch Gesetze gebrochen haben. Das rechtfertigt weder eine internationale Hetzjagd, bei der andere Staaten zur Kooperation gezwungen werden sollen bzw. die diplomatischen Rechte ihrer Politiker ignoriert werden, noch 35 Jahre Haft, noch Einschüchterungen der Presse, die darüber berichtet.
Unsere Regierung hat genau wie die der USA oder Großbritanniens einen Amtseide geschworen, der sie zur Verteidigung der Interessen des Volkes verpflichtet. Wenn hier jemand “Verrat” begangen hat, dann waren es Geheimdienste und Politiker, die uns vorenthalten haben, was wir eigentlich wissen müssen, um unsere Rolle in einer Demokratie auszuüben: die des Souveräns, nicht die eines Gegners, den man überwachen und vor dem man sich schützen muss.
Letztlich ist aber auch das nur ein Symptom eines größeren Phänomens. Das „System“ verselbstständigt sich nicht nur in Bezug auf die Wirtschaft. Es passiert auch politisch. Staaten stehen immer weniger im Dienste ihrer Bürger, sondern entwickeln sich zu eigenständigen, dem Volk übergeordneten Konstrukten. Konstrukten, die sich von uns abspalten und vor uns geschützt werden müssen.
Das zeigt sich in vielen Bereichen, nicht nur bei Überwachung. Die Sicherheitsbehörden werden nicht nur technisch und rechtlich aufgerüstet, die Polizei wird auch immer weiter militarisiert. Das mag nun übertrieben und dramatisch klingen, aber die Ausrüstung richtet sich immer mehr an der der Armee aus. In den USA wird der Einsatz von hochgerüsteten SWAT-Teams von der Ausnahme zum Normalfall. Auch bei uns nehmen überharte Einsätze gegen Demonstranten zu. Mit Freund und Helfer hat das nur noch wenig zu tun.
Das alles mögen einzelne Entwicklungen sein und für sich von vielen noch nicht als dramatisch angesehen werden. Aber das alles sind Bausteine für eine Welt, die mit der Idee, mit der unsere Staaten mal gegründet wurden, nicht mehr viel zu tun hat. Wir sollten das nicht einfach zulassen. Hier geht es um deutlich mehr als ein paar mitgelesene private Daten.