Vergesslichkeit ist ein Problem das jeder kennt. Aber vielleicht ist das Vergessen garnicht so sehr ein Problem, sondern viel mehr eine Fähigkeit. Solomon Schereschewski war ein Mann der nicht vergessen konnte. Du könntest ihm die Börsenkurse des heutigen Tages aus der Zeitung vorlesen, von tausend Firmen, und er würde sich in acht Jahren noch daran erinnern wie die Kurse an diesem Tag waren. Zumindest könntest Du das rein hypothetisch, denn Solomon wurde im Jahr 1886 geboren, und ist bereits seit über 100 Jahren tot. Der Psychologe Alexander Romanowitsch Lurija gilt als einer der Begründer der Neuropsychologie, und er schrieb ein Buch über Solomon. Nun sollte man meinen dass so ein ausgezeichnetes Erinnerungsvermögen Solomon Schereschewski viele Vorteile im Leben gebracht hätte. Und in seinem Beruf als Journalist ist das ja auch naheliegend. Ein Journalist der sich mühelos unbegrenzt Fakten merken konnte, niemals etwas nachschlagen brauchte weil er komplette Zeitungsarchive im Kopf mit sich trug – man sollte meinen bessere Vorraussetzungen könnte es für einen Journalisten garnicht geben. Doch für Solomon Shereshevsky war sein unfehlbares Gedächtnis mehr ein Fluch als ein Segen. Er verfügte nicht nur über ein makelloses Erinnerungsvermögen – er war auch Synästhetiker. Jedes Wort löste in ihm Sinneswahrnehmungen aus – intensive, lebendige Sinneswahrnehmungen und Gefühlseindrücke. Und das war einer der Gründe, weshalb er sich so einfach an Worte erinnern konnte – egal ob er sie gelesen oder gehört hatte. Denn sein Gehirn übersetzte jedes einzelne Wort automatisch in ein intensives Erlebnis. Teilweise so intensiv und deutlich, dass es ihn Mühe kostete zwischen innerer Vorstellung und Realität zu unterscheiden. Solomon Schereschewski konnte seinen Puls drastisch beschleunigen, einfach nur indem er sich vorstellte schnell zu rennen. Wenn er sich vorstellte seine Hand in einen Ofen zu stecken, stieg seine Körpertemperatur. Er konnte sogar Schmerzen kontrollieren indem er die Bilder veränderte, die Schmerz in seiner Vorstellung erzeugte. Allerdings konnte er keine Worte verstehen, die er nicht in Bilder übersetzen konnte. Das Wort “nichts” beispielsweise konnte er nicht verstehen. Shereshevsky verstand alles wortwörtlich. Redewendungen wie “eine Mücke zum Elefanten machen” konnte er nicht begreifen, weil er es wortwörtlich verstand. Und manchmal triggerte ein einzelnen Wort, eine Tonlage, die Art wie jemand etwas sagte in ihm eine so intensive Erinnerung, dass er davon überwältigt wurde. So überwältigt, dass er unfähig war zu reagieren. Seine Erinnerungen waren zu intensiv, zu deutlich, zu klar – er konnte nicht gut genug vergessen. Wir denken über das Vergessen meist negativ – aber die Fähigkeit zu vergessen ist sehr wertvoll. Schereschewski ist nicht der einzige, der von seinen eigenen Erinnerungen überwältigt ist – es gab viele Menschen wie ihn. Es gibt einen Grund dafür, weshalb Dein Gehirn Erinnerungen vergisst. Das schöne ist – Du kannst Dein Gehirn trainieren, sich die Dinge zu merken, die Dir im Leben helfen können – und die Dinge zu vergessen, die Dein Bewusstsein überfrachten, damit Du einen klaren Kopf behälst.