Direkte Demokratie in Deutschland
Ein Gastbeitrag von Gregor Spalek
Es mag verständlich sein, dass vor 62 Jahren die Väter und Mütter des Grundgesetzes keine direkt-demokratischen Elemente in das Grundgesetz aufgenommen haben. Man hatte Angst, dass die Deutschen in Volksabstimmungen, aufgehetzt durch radikale Gruppierungen, womöglich Gesetze durchsetzen, die der freiheitlich-demokratischen Grundordnung widersprechen. Begründet wird dies bis heute mit angeblich unguten Erfahrungen aus der Weimarer Republik.
Doch letztlich haben die Verfasser des Grundgesetzesdabei die Geschichte falsch interpretiert: Denn in der ersten deutschen Demokratie gab es genau zwei Volksabstimmungen. Die erste wurde von der SPD und die zweite von der NSDAP initiiert. In beiden Fällen scheiterten die Initiatoren, da nicht die Mehrheit der Abstimmungsberechtigten für deren Vorhaben votierte. Die Nationalsozialisten sind dann bekanntlich 1933 durch demokratische Wahlen an die Macht gelangt und nicht durch eine Volksabstimmung. Konsequenterweise hätten die Verfassungsväter demnach eher demokratische Wahlen verbieten müssen – und keine Volksabstimmungen.
In den darauffolgenden Jahrzehnten wurde immer wieder das Gespenst von möglichen irrationalen Entscheidungen bei Volksabstimmungen an die Wand gemalt, um diese zu verhindern. Ein beliebtes Totschlagargument neben der Warnung vor Nazis war die angeblich fortdauernde Befürwortung der Todesstrafe innerhalb der Bevölkerung, die diese beim ersten möglichen Plebiszit gleich einführen werde.
Nun gibt es aber bekanntlich Parteien in Deutschland, die sowohl die Nazi-Zeit als auch die Todesstrafe gerne wiedereinführen würden. Würde die Bevölkerung diesen Wunsch teilen, so hätte die NPD bestimmt kein Nischendasein in der Parteienlandschaft gefristet. Die Tatsache, dass dies glücklicherweise anders ist, zeigt die Unkorrektheit der Gegenargumente. Ein Blick auf das europäische Ausland, wo in vielen Ländern Volksabstimmungen möglich sind und auch durchgeführt werden, wo weder Todesstrafe noch irgendwelche undemokratischen Gesetze eingeführt wurden, verweist solche Argumente dann endgültig ins Reich der Phantasie.
Diese Postulate verbergen jedoch oftmals noch einen tieferen Grund. Es ist vielleicht auch die Angst der politischen Elite, dem „Pöbel“ die Möglichkeit einzuräumen, ihr ins Handwerk zu pfuschen. Wahlen finden alle vier Jahre statt und in der Zwischenzeit können die Repräsentanten des Souveräns, im Rahmen der Verfassung, schalten und walten wie sie möchten. Sogar die Schranken der Verfassung sind kaum ein Hinderungsgrund, wenn man sich vor Augen führt, wie oft das Grundgesetz schon geändert wurde. Denn auch das Grundgesetz kann bekanntlich ausschließlich vom Bundestag und dem nicht einmal halbdemokratischen Bundesrat geändert werden. Nur vom Volk nicht! Wo kämen wir denn auch dahin – da könnte ja jeder kommen!
Das aus Parteien bestehende Parlament und die Regierung können zur Not auch ganz im Widerspruch zu den vor den Wahlen gemachten Versprechungen agieren. Sie können entgegen ihrer vorherigen Versprechungen Gesetze mit weitreichenden und langfristigen Auswirkungen beschließen, ohne dass sie der Souverän verhindern kann. Die absolute repräsentative Demokratie, wie sie in Deutschland herrscht, stärkt deshalb auch ungemein die Macht der Parteien. Denn sämtliche Anliegen der Bevölkerung müssen erst von den Parteien aufgegriffen und durch ihre Entscheidungsfindungsinstanzen gezogen werden, um dann irgendwann, zur Unkenntlichkeit glattgeschliffen, in Gesetzesform gegossen zu werden. Parteiunabhängige Initiativen aus der Mitte der Gesellschaft haben somit keine Chance, solange sich die Parteien ihrer nicht annehmen.
Verheerend kann es werden, wenn mitten in der Legislaturperiode Ereignisse auftreten, für die die Parteien vor den Wahlen keine Lösungen anbieten konnten oder diese, um den Zorn der Wähler nicht schon an der Wahlurne zu spüren zu bekommen, einfach verschwiegen. Diesen Fall erleben wir heute. Die im Zusammenhang mit der sogenannten Euro-Rettung von den Parteien angestrebten Maßnahmen rühren an den Grundfesten des Staates. Es werden Rettungspakete in Billionenhöhe verabschiedet, die, sofern sie auch eingelöst werden müssen, einen finanziellen Ruin darstellen könnten. Noch gefährlicher wird es aber, wenn die Politik, wie mit der geplanten Gründung des EFSM, massiv staatliche Souveränität auf eine „höhere“ Ebene verlagert und dieser, wie mit dem EFSM geplant, umfassende Vollmachten geben will. Nichts davon wurde im Bundestagswahlkampf 2009 debattiert. Die Wähler hatten folglich ganz andere Entscheidungsgrundlagen und „dank“ der absoluten repräsentativen Demokratie, können sie heute vor dem Fernseher oder im Internet hilflos beobachten, wie sich das von ihnen direkt gewählte Parlament selbst entmachtet und damit auch sie selbst als den obersten Souverän.
62 Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik ist es höchste Zeit, dass das deutsche Volk, genauso wie die meisten Nachbarvölker, die Möglichkeit bekommt, über die wesentlichen Richtungsentscheidungen der Politik mitbestimmen zu können. Natürlich kann man in einem so großen Land wie der Bundesrepublik kaum eine direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild einführen. Große Entitäten brauchen die repräsentative Demokratie – aber eben keine absolute, wie bislang in Deutschland. Wir brauchen also einen Hybriden, eine Mixtur, eine repräsentative Demokratie mit direktdemokratischen Elementen, um die Unzulänglichkeiten des gegenwärtigen partei-parlamentarischen Absolutismus zu überwinden. Zum einen sollte der Bundestag die Befugnis bekommen, eine bindende Volksabstimmung anzusetzen. Zum anderen, und das wäre natürlich noch wichtiger, muss der oberste Souverän die Möglichkeit haben, mittels einer Abstimmung, die Grundlinien der Politik der Bundesrepublik Deutschland zu bestimmen. Eine Demokratie, in der die Macht des Wählers ausschließlich darin besteht, alle vier Jahre einen Stimmzettel in die Urne zu werfen und dann die ganze Legislaturperiode seinen Repräsentanten quasi ausgeliefert zu sein, ist im 21. Jahrhundert ein Anachronismus, der nicht mehr haltbar ist. Das gegenwärtige Krisenmanagement im Falle des Euro zeigt, wie ohnmächtig der Bürger in unserem jetzigen System sein kann.
Die Tagespolitik gehört den gewählten Repräsentanten, die großen Entscheidungen aber müssen vom Volk direkt abgestimmt werden. So wie es die meisten demokratischen Nationen seit Jahrzehnten sehr erfolgreich praktizieren. Deshalb an dieser Stelle der Appell an die Parteien, angelehnt an die Worte einer großen Persönlichkeit: Gebt dem Kanzler, was des Kanzlers ist und gebt dem Volke, was des Volkes ist!
Der Artikel erschien im Original auf dem Blog von Florian Sander