Wie unlängst beschrieben, lautet eines meiner Sabbatical-Ziele, dass ich zuversichtlich sein will in Hinblick auf meine künftige Aufgabe. Wenn ich diese Aufgabe nachhaltig gut ausüben will (oder besser: Weil ich diese Aufgabe nachhaltig gut ausüben will), muss meine Gottesbeziehung wach, lebendig, gesund sein: Ich brauche eine Spiritualität, die meine Seele nährt. Dafür gibt es sehr viele hilfreiche Ansätze. Hier möchte ich von einer Gebetesform sprechen, die sich das “Gebet der liebenden Aufmerskamkeit” nennt (engl. examen). Dies ist eine Gebetsform, die in der Tradition der Kirche schon sehr lange bekannt ist. Meist wird es am Ende des Tages praktiziert und dauert plusminus zehn Minuten. Es handelt sich um eine Art Tagesrückblick, bei dem man u.a. nach Spuren Gottes im Alltag sucht, den vergangenen Tag “mit den Augen des Herzens” (Eph 1,18) betrachtet. Es hilft, die Gottesbeziehung besser im Alltag zu verankern, weil man ihre praktischen Auswirkungen wahrzunehmen lernt.
Und so habe ich mir gesagt: Wenn ich als praktische Frucht meines Sabbaticals nur dies eine wirklich einüben sollte, dass ich das Examen fruchtbar in meinem Alltag integrieren konnte, dann habe ich für die Zukunft viel gewonnen ( – von daher die erhoffte Zuversicht).
Nun… ich bin noch nicht so weit…. Ich übe mich nun seit zwei Monaten darin und kann leider nicht behaupten, dass ich es regelmässig hilfreich fände. Aber ich ahne, dass es noch kommen wird, und so bleibe ich dran. Zweidrei Mal erwies es sich als segensreich, was mich motiviert, es weiter einzuüben.
Wie sieht das praktisch aus? – Das klassische Modell enthält fünf Schritte:
1. Dankbarkeit: Wo habe ich Gottes Zuneigung zu mir, sein Wohlwollen, seine praktische Liebe zu mir an diesem Tag konkret erlebt? Das will ich bewusst wahrnehmen als sein gnädiges Wirken und ihm dafür danken. Das hilft mir, dass die Liebe Gottes mehr und mehr vom theoretischen Wissen zur persönlichen Erfahrung wird. – Es kann sein, dass dieser Schritt alleine die verfügbare Zeit ausfüllt. Es wäre gut genutzte Zeit!
2. Bitte um Hilfe für den anschliessenden Tagesrückblick: Da der nächste, dritte Schritt ein besonderes Mass an geistlicher Aufmerksamkeit erfordert und nur mit Gottes gnädiger Hilfe fruchtbringend umgesetzt werden kann, erbitte ich mir diese Hilfe.
(Dies ist die klassische Reihenfolge vom 1. und 2. Schritt. In der Literatur habe ich auch gefunden, dass die Bitte um göttliche Hilfe als allererster Schritt erfolgt).
3. Tagesrückblick mit der besonderen Frage, wo ich “Trost” (consolation), wo “Trostlosigkeit” (desolation) erlebt habe. “Trost” und “Trostlosigkeit” sind zwei zentrale Begriffe in der ignatianischen Spiritualität, durch die uns Examen erschlossen wurde.* Ein Grundanliegen Ignatius’ war es, seinen Leuten beim Treffen von guten Entscheidungen zu helfen; er nannte dies “Unterscheidung der Geister” (discernment), und er hat dafür ein eigentliches (und hilfreiches!) “Regelwerk” zusammen gestellt. Ein zentraler Pfeiler dieser Anleitung sind die genannten Begriffe, wobei “Trost” jene Gemütsregungen bezeichnet, die zu Gott hinführen, die von tiefem Frieden begleitet sind, die Gemeinschaft fördern usw. “Trostlosigkeit” bezeichnet das Gegenteil. – Nach diesen Gemütsregungen wird in diesem dritten Schritt Ausschau gehalten.
Wer – wie z.B. ich… – die Kunst des discernments einüben möchte, der ist ganz besonders eingeladen, das Gebet der liebenden Aufmerksamkeit zu praktizieren, weil in diesem dritten Schritt eine wichtige Grundfähigkeit dafür “trainiert” wird. Ich erhoffe mir dadurch ein zunehmend feines Gespür dafür, wenn Gott mich in eine Richtung führen will (von “Trost” begleitet), respektive wenn eine Option von Gott wegführen würde (“Trostlosigkeit”).
*Disclaimer: Auch wenn ich hier über ignatianische Spiritualität referiere: Ich weiss eigentlich sehr wenig darüber. Vieles von dem Wenigen erscheint mir jedoch äusserst hilfreich, und so bin ich auf Entdeckungsreise.
4. Bitte um Vergebung wo ich mich von Gott weg bewegt habe. Der 3. Schritt kann auch Dinge zutage fördern, wo ich mich vor Gott und Mensch falsch verhalten habe. Dafür bitte ich Gott um Vergebung. (…ein guter Beitrag für eine gute Nacht!)
5. Ausblick auf den kommenden Tag: Vielleicht ergeben sich aufgrund der beiden vorangegangenen Schritte konkrete Ideen, wie ich meine kommenden Tage gestalten möchte? Dies halte ich fest und bitte Gott um Hilfe.
Das alles klingt nun vielleicht sehr rigoros und einengend. Ist es aber überhaupt nicht. Es ist eine lose Vorgabe, die sich zwar durchaus als universal hilfreich erwiesen hat, bei deren Umsetzung man jedoch viel innere Freiheit hat. Die Struktur dient dem Menschen, nicht umgekehrt! Es darf nicht vergessen werden: Es handelt sich dabei um ein Gebet, also um einen Dialog zwischen Gott und Mensch. Der muss nicht in immer gleichen Bahnen ablaufen.
Wer sich mit mir auf die Entdeckung dieser Gebetsform machen will: hier ein paar Empfehlungen fürs weitere Studium:
- Willi Lambert: Das Gebet der liebenden Aufmerksamkeit. – Dieses kleine Büchlein führt sachte ans Thema heran mit vielen hilfreichen Vergleichen und Erklärungen. Enthält zahlreiche Ideen für die praktische Umsetzung.
- Jim Manney: A Simple, Life-Changing Prayer: Discovering the Power of St. Ignatius Loyola’s Examen. – Eine hilfreiche, kurze Einführung.
- Timothy M. Gallagher: The Examen Prayer: Ignatian Wisdom for Our Lives Today. – Ich habe dieses Buch nicht gelesen, aber Gallaghers mündliche Ausführungen (s. nächster Punkt) sind äusserst hilfreich und empfehlenswert.
- Gespräche mit M. Gallagher: Diese Ausführungen (8x ca. 30min) waren für mich besonders inspirierend, weil Gallagher Anteil gibt, wie er selber das Examen ganz konkret umsetzt: Welche Fragen bewegt er? Welche Einsichten gewinnt er? – Es hilft mir, die Tiefe und das Potential dieses Gebets zu erahnen.
Hast du Erfahrungen mit diesem Gebet? Was hast du gelernt?