Gastbeitrag von Ulrike Richter: Wohin geht unsere Ernährungsreise?

Vor Kurzem ist ein sehr gelungerener Artikel in a tempo (Druckausgabe 05/2011) erschienen,  den wir mit freundlicher Genehmigung der Redaktion hier veröffentlichen dürfen. Viel Freude beim Lesen!

Wohin geht unsere Ernährungsreise?

von Ulrike Richter

Als Eva den Apfel pflückt – ging sie einer Laune nach. Sie wurde vom Genuss gelockt, geschubst von einer Portion Neugier. Eva pflückte, naschte und – musste die Konsequenzen tragen. Vorbei war es mit den paradiesischen Zuständen. Der Mensch muss seinen Körper seither selbst durchs Leben manövrieren.

Das sollte in einer modernen Überflussgesellschaft nicht schwer sein. Doch genau hier zeigt sich der Spannungsbogen: Wir sitzen vor vollen Tellern und nörgeln am Essen. Wir essen aus Lust und Frust und nicht, weil wir hungrig sind. Wir wollen uns gesund ernähren und trotzdem werden immer mehr Menschen durch Essen krank. Was ist los im Land, in dem Milch und Honig fließen?

Die Welt bleibt im Wandel, das gilt besonders für die Esskultur. Menschen haben heute ein grundsätzlich anderes Essverhalten als alle vorherigen Generationen. Die Gründe hierfür sind vielfältig und individuell:

• Internationale Vielfalt schmälert regionale Angebote.

• Agrar- und Nahrungsmittelindustrie erleben einen unaufhaltsamen Boom.

• Fertige Mahlzeiten in den unterschiedlichsten Preis- und Qualitätsklassen gibt es zu jeder Zeit.

• Hauswirtschaft steht nur noch selten auf dem Stundenplan.

• Kochen und Haltbarmachung sind theoretisch überflüssig.

• Mit Essen werden negative Gefühle wie Einsamkeit, Minderwertigkeitsgefühle, Stress oder Frust kompensiert.

 Das sind einige «äußere» Gründe. Was aber braucht unser Körper? Zunächst den festen Willen, die Verantwortung für die Pflege und die Versorgung der Gesundheit zu übernehmen. Tatsächlich ist das Abenteuer Ernährung spannend wie ein Krimi. In Zeiten der Jäger und Sammler waren sich die Menschen der Gefahren noch be­wusst: Ein giftiger Pilz, ein paar toxische Beeren und das Ende war nah. Warum aber ist der Geruchssinn des Menschen empfindlich? Sicher nicht, damit wir an jeder Straßenecke blind der Nase folgen. Jeder Koch entscheidet durch die Wahl seiner Speisen letztlich über Leben und Tod – täglich! Wir sollten also sehr genau darauf achten, was auf unseren Tellern liegt und wer es dort hingelegt hat. Und unsere Aufmerksamkeit kommt dann nicht nur uns, sondern auch den Produkten zugute, die wir nutzen – die wir essen und damit uns zu eigen machen.

Die Natur sieht kein Schlaraffenland vor. Der Mensch lässt Milch und Honig fließen – aber zu welchem Preis? Unser Preis für billige Nahrungsmittel ist der Verlust des Wissens über die natürliche Ent­stehung von Nahrungsmitteln. Wir dürfen diesen direkten Kontakt aber nicht verlieren, wenn wir vital sein wollen.

 Fast eine halbe Million Euro für Essen

80 Millionen Menschen in Deutschland müssen täglich essen. Ein enormes Geschäft. Über seinen Marktwert ist sich ein normaler Konsument leider nur allzu selten bewusst.

Ein Tauziehen um jeden Konsumenten findet statt, dabei scheint jedes Mittel recht. Um Gesundheit geht es bei vielen Anbietern schon lange nicht mehr wirklich, auch wenn diese lautstark beschworen wird.

Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema stößt auf wenig Resonanz, auch wenn die Medien immer wieder mit Thementagen den Interessierten anfüttern. Kein Wunder, denn mit naturbelassenen Nahrungsmitteln lässt sich selten das große Geld verdienen.

Stellen Sie sich vor: Tütensuppen, Fertigsoßen, Dosengerichte, Tiefkühlkost, Brat- und Bockwürste bleiben liegen … Dafür würde die Nachfrage nach frischem Obst und Gemüse, nach unbehandeltem Getreide und Milchprodukten mit natürlichem Fettgehalt, nach umsichtigen Anbaumethoden und nachhaltigen Produkten steigen! Bei dieser Vorstellung schlottern so manchem Massen­produzenten nicht nur die Knie.

Aus wirtschaftlicher Sicht darf und soll es keine radikalen Ver­änderungen geben. Also muss jeder bei sich selbst anfangen. So, wie sich unsere Esskultur von Lebensmitteln und sozialer Ordnung entfremdet hat, so viel Zeit braucht sie auch wieder zur Genesung. Derweil hat sich die Gesundheitsbranche auf den Weg gemacht, um aus Entstandenem und noch entstehendem Schaden durch falsche Ernährung Profit zu schlagen.

Während es in Köpfen und Labors brodelt, bleibt die heimische Küche oft kalt. Haushaltstechnik und vorproduzierte Lebensmittel symbolisieren die Befreiung der Hausfrau und des -mannes. Industrie­nahrung ist eine rationelle Entscheidung – im Glauben, Zeit und Mühen zu sparen. Geschmack soll und darf seit dem Wirtschaftswunder die Ernährung bestimmen. Genau das wird als die große «Freiheit» versprochen. Wir können kaufen und essen, was uns schmeckt. Doch hier beginnt die Geisterfahrt gegen die Natur des Menschen, die weder beheizte Wohnungen noch ganzjähriges Schlemmen kennt.

80 Prozent des Geschmacks werden aber nicht durch die Zunge bestimmt, sondern durch die Nase – den Geruch. Aufgeschlossene, gekochte Nahrung gibt deutlich mehr Aromen frei als Rohkost. Intensive Kochgerüche lassen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Die Weichen für diese Sinnes­wahrnehmungen und für das spätere Essverhalten werden in der frühen Kindheit gestellt. Ganze Generationen lernen jedoch, nur dann zu essen, wenn es schmeckt. Und auch nur das zu essen, was schmeckt – auch wenn kein Hunger plagt.

Noch etwas bleibt auf der Strecke: Der Mensch als soziales Wesen. Es hat Millionen Jahre gedauert, um eine Tischkultur zu entwickeln – und es brauchte nur ein halbes Jahrhundert, um sie an den Rand des Zerfalls zu bringen. Wir essen kaum noch gemeinsam, dafür aber oft allein im Stehen und Gehen.

Wir essen kaum noch am gedeckten Tisch, dafür aber aus der Hand von der Pappschale.

„Das können wir uns leisten“, ist ein fast trotziges Argument. Fast Food, Restaurantbesuche – als be­sonderer Moment eine wunderbare Abwechslung – symbolisieren Reichtum und Ungebundenheit. Das Pausenbrot hingegen erinnert an wanderbestiefelte Generationen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg – und die „hatten schließlich nichts“! – Doch! Sie hatten seltener Diabetes, Bluthochdruck und andere Folgen falscher Ernährung. Wir können uns jederzeit (wieder) auf den Weg machen und dabei erleben, dass es ist wie stets im Leben: Eigentlich ist der Aufbruch die größte Hürde, wer erst einmal in Schwung ist, kommt auch leicht voran. Hier kann schon das Einkaufen die Hürde kleiner machen: Nehmen wir uns nämlich Zeit, ganz bewusst und entschieden, um beispielsweise auf dem Wochenmarkt statt im Discounter einzukaufen, dann bringen wir mit den Gesprächen und Einkäufen gleich schon ein Stück Lebensqualität in unseren Körben mit nach Hause.

Als Eva den Apfel pflückte, wollte der Mensch vom Leben naschen. Er soll genießen, aber er muss den Weg für sein Leben selbst bestimmen.

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Ulrike Richter wurde 1962 in Krefeld geboren und ist Mutter von drei Kindern. Die Diplomsoziologin war lange Jahre als Chefredakteurin für die Naturkostfachzeitschrift «Mahlzeit!» und als Journalistin für verschiedene Publikationen tätig.

Ihr neues Buch trägt den Titel «Fahrschule Ernährung. Genussvoll die eigene Gesundheit steuern».

225 Seiten, mit zahlr. Fotos, durchg. farbig, gebunden

Euro 22,90 (D) | ISBN 978-3-7725-2527-8

Gastbeitrag von Ulrike Richter: Wohin geht unsere Ernährungsreise?

 


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