Fronleichname

Fronleichnam ist. Steht heute im Kalender. Doch Augenwischerei ist das. In der schönen neuen Hölle des Neoliberalismus ist jeder Tag ein Fronleichnamstag. Denn jeden Tag schleppen sich Leichname zum Frondienst. Anstatt des geschundenen Leibes des Herrn zu gedenken, böte es sich anhand einer Profanisierung der Feierlichkeit an, diesen lebenden Leichen einen Feiertag zu schenken - nicht zu Verewigung, sondern mit dem Ziel, ihn schnellstmöglich wieder abzuschaffen.
Nicht zuletzt die Hartz-Konzeptionen haben bewirkt, dass sich Menschen in Arbeitsverhältnissen festsetzten, aus denen sie sich kaum herauszuwinden getrauen - der gerechte freie Arbeitsmarkt, in dem sie nicht frei, sondern durch Sanktionspraxis seitens der Behörden gefangen sind, desillusioniert den Leichnam, der sich an unterbezahlte, zeitlich überlange, prekäre, urlaubsarme und schikanöse Arbeitsplätze schleppt. Vierzehn bis sechzehn Stunden als Paketzusteller unterwegs - Haare schneiden für Dreifünfzig Stundensatz - Krankheiten durch Entlassung und Wiedereinstellung nach Genesung umgangen - heute Arbeitseinsatz hier, morgen hundert Kilometer weiter dort. Das ist die arbeitstägliche Totenstarre von vergangenen Menschen, die bloß an der Peripherie eines Erwerbslebens stehen. Die erwerben nur Mühsal und Unverständnis; und keinerlei Anspruch auf menschenwürdige Behandlung.

Man denkt automatisch an Travens Totenschiff, an jene abgerissenen, gräulich ausgebleichten Gestalten, die im Bauch des Schiffes schuften und sich mühen. Dreckig, verschwitzt und verstaubt. Graue Korpusse, immermüde Konstitutionen, toter Blick, tote Lebensqualität. Traven beschreibt uns diese menschlichen Wracks bildlich - einem dieser Existenzen verleiht er erzählend eine Stimme; es ist die Geschichte eines Mannes, der im Schiff landet, weil es so was wie seine letzte Chance ist. Und er landet bezeichnenderweise nicht auf dem Schiff - er landet darin. Traven gibt uns ein Bild von Toten durch und durch. Dem Schiff als Selbstzweck, damit es strebsam schwimmt, ist jedes Opfer recht - der Mensch im Schiffsbauch ist nichts, das Schiff alles. Die Bedürfnisse des Heizers nichts - die zu schiebende Schicht unaufschiebbar und alles. Traven zeichnete ein Transportmittel, das diesen modernen Arbeitsmarkt karikiert. Er beschrieb Fronleichname, durch Fronarbeit zu Leichen gewordene Ex-Menschen, Ex-Persönlichkeiten, Ex-Schicksale und -Hoffnungen. Vernichtet durch Arbeit - nicht wie einst im KZ, sondern sukzessive, quasi als Abschlagszahlung kontinuierlich zermürbt und zerrieben. Nicht gefangen hinter Stacheldraht, sondern frei auf dem Arbeitsmarkt.
Fronleichnam begeht heute die halbe Republik. Hochfest des Leibes und Blutes Christi! An die Qualen, die dieser Nazarener erlitt, gedenken wir noch knapp zweitausend Jahre danach - die Torturen aber, die wir täglich vor Augen haben, geraten aus dem Sinn. Die nennen wir Würde durch Arbeit, nennen wir Einstiegsmöglichkeiten für den ersten Arbeitsmarkt, benennen wir als das, was das Totenschiff für den Erzähler war: letzte Chance, nennen wir alles halb so schlimm. Fronleichnam ist heute - ungezählte Fronleichname strecken sich in dieser Gesellschaft jedoch täglich ganz ohne Feiertag.
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