Frey, James: Strahlend schöner Morgen

James Frey hat in seinem noch jungen Schriftstellerleben bereits alles erlebt – er ist in den Himmel gelobt und gehypt worden, sah sich wie kein Zweiter einer harschen Medienkritik ausgesetzt und war vor allem eines: überaus erfolgreich. Einen beträchtlichen Anteil an seinem aktuellen Ruhm hat sein Comeback-Roman „Strahlend schöner Morgen“, mit dem ihm die öffentliche Aussöhnung und die Wiederaufnahme in die Feuilletons der USA gelang.


Klappentext

Old Man Joe, der Trinker, das Ausreißerpärchen Dylan und Maddie, Amberton, der Filmstar, der heimlich Männer liebt, und die behütete Einwanderertochter Esperanza – sie sind die Hauptfiguren in diesem großen amerikanischen Gegenwartsroman über die Mega-City L.A. In ihren Geschichten entfaltet sich ein Kosmos urbanen Lebens, ein Kaleidoskop aus grellen und dynamischen Bildern, aus Sehnsüchten und zerstörten Träumen.

Der erste Satz

Am 04. September 1781 gründet eine Schar von vierundvierzig Männer, Frauen und Kindern, die sich „die Pobladores“ nennen, in der Nähe des Zentrums des heutigen Los Angeles eine Siedlung.


Sehr lange Zeit stand „Strahlend schöner Morgen“ ungelesen in meinem Regal. Ich hatte es aufgrund des ansprechenden Klappentextes online gekauft und erwartete eine Mischung aus Boyle’scher Fabulierkunst und Auster’scher Großstadtanonymität. Ein erstes Durchblättern ernüchterte mich: Handlungspassagen wechseln sich ab mit willkürlichen Anekdoten willkürlicher Personen, seitenlange Aufzählungen der verschiedenen Highways, Freeways und Interstates, Übersichten über die verschiedenen Gangs, Abrisse über die Stadtentwicklung L.A.s und und und. Gut, dass ich mich irgendwann dann doch zum Lesen überwand. Ich hätte etwas versäumt.

Ein Roman im klassischen Sinne ist „Strahlend schöner Morgen“ also ganz gewiss nicht. Doch was ist es dann? Frey hat eine Collage entwickelt, die in vielen kleinen Versatzstücken den Blick auf einen ganz bestimmten Ausschnitt dieser alles möglich erscheinenden Stadt an der amerikanischen Westküste lenkt. Nur für sich betrachtet, erscheint deutlich mehr als die Hälfte des Buchs belanglos oder gar überflüssig; selten liegt ein Überblättern ganzer Passagen näher. In der Summe betrachtet fügt sich jedoch recht bald alles zu einem großen Ganzen zusammen und verdichtet sich in der Wahrnehmung zu dem immer stärker werdenden Gefühl, eine Stadt wirklich kennen und begreifen zu lernen. Man taucht ein, lässt sich geblendet treiben und von der Gleichzeitigkeit unendlich vieler Subkulturen, Lebensmodellen und Möglichkeiten in Erstaunen versetzen.

Der Wust von Informationen und Fakten erscheint grenzenlos, der dazugehörige Recherchenaufwand ungleich höher und nötigt auf den ersten Blick Respekt ab. Frey hat es sich jedoch einfach gemacht. Wo die Nachschlagemöglichkeiten nicht ausreichten oder die Wirklichkeit nicht spektakulär genug war, erfand und übertrieb er maßlos hinzu. Für seine angeblichen Memoiren „Tausend kleine Scherben“ wurde er für dieses Vorgehen von der amerikanischen Literaturszene mit unbändigem Zorn belegt. Als Romancier ist er nun dem unbedingten Wahrheitsgebot entbunden und macht davon regen Gebrauch. Trotz dieses Wissens ist man geneigt, die als Faktenwissen daherkommenden Bruchstücke für bare Münze zu nehmen, was einen bedenklichen Blick auf unser heutiges Informationsverhalten wirft.

Zwischen all diesen Kuriositäten und Anekdoten findet dann doch noch Handlung statt. Frey greift vier Menschen aus diesem Vier Millionen-Moloch heraus und beleuchtet abwechselnd deren Leben und deren Probleme: die Existenzängste, den Zwang zur Konformität, die sich auflösenden Zukunftspläne. Das alles ist gut ge- und beschrieben, aber die Charaktere bleiben flach und Frey strebt nicht nach Tiefe. Man merkt ihm seine Vergangenheit als Drehbuchautor an. Die Szenen sind schnell geschnitten, die Dialoge auf dem Punkt, es fehlen nur die Kamerapositionen aber die Bilder stellen sich auch so ein, weil man sie so ähnlich schon gesehen hat. Gegen Abschnittsende nimmt die Handlung stets Fahrt auf und anstatt der fälligen Werbepause folgt die nächste Kurzepisode aus den Waffengeschäften oder der Pornoindustrie.

Trotz dieser selbstauferlegten Oberflächlichkeit erschafft Frey Momente, die im Gedächtnis haften bleiben, weil es ihm gelingt, diese so gekonnt zu inszenieren, dass sie all die erfüllten und gescheiterten Träume und Sehnsüchte dieser alles verheißenden Megametropole nachempfinden lassen. Die beschriebenen Einzelschicksale stehen nicht isoliert da, sondern werden durchsickert von der Ahnung des Ganzen, während das Ganze relativiert wird durch den Maßstab der dargestellten Menschen – ein schwieriges Unterfangen und zugleich der beste Ansatz, einen Roman über eine ganze Stadt und ihre Bewohner zu schreiben. Frey hat das hervorragend umgesetzt.


Was bleibt?

Zugegeben, die meisten Anekdoten sind bereits am Ende des Buches wieder vergessen ob des pausenlosen Trommelfeuers von Eindrücken. Manches geht gar beim Lesen direkt unter und dennoch fühlt man sich am Ende bereichert um das Wissen um das Lebensgefühl einer Metropole, ihrer Unzulänglichkeiten und ihrer Einzigartigkeit. Vor „Strahlend schöner Morgen“ wollte ich nie nach L.A. reisen, weil mich die Stadt einfach nicht anzog; nach dem Lesen habe ich immer noch kein Bedürfnis, weil ich nun das Gefühl habe, bereits alles kennengelernt zu haben. So etwas muss ein Buch erstmal leisten.

Frey, James: Strahlend schöner Morgen (Original: Bright Shiny Morning). Aus dem Amerikanischen von Henning Ahren. Erstmals erschienen 2008.

Taschenbuchausgabe: List. 592 Seiten. ISBN 13 9783548609997. € 9,95.


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