„Hörst du die Glocken läuten?“, fragte mich Armin. Wir saßen in der Kantine des Sanatoriums. Am Nebentisch spielte ein Junge JoJo und gegenüber löffelte eine Alte eine imaginäre Suppe. Sie hatte sich in eine Wolldecke eingemummelt.
„Ich höre nichts“, entgegnete ich wahrheitsgemäss. Doch dann begann ich an meiner Antwort zu zweifeln. War da nicht ein leises Klingeln hinter dem Geräuschteppich der Kantine?
„Es ist schon lange da und in den letzten Wochen immer stärker geworden.“
„Du solltest zum Ohrenarzt. Vielleicht hast du einen Tinnitus“, schlug ich vor und lauschte danach aufmerksam dem Stimmengebrabbel und den Teller- und Besteckgeräuschen, dem Schlürfen und dem Getrippel in der Kantine. War da wirklich nichts?
„Ich höre es nur hier, in meinem Zimmer ist es still.“
In diesem Augenblick schaute die Alte mit der imaginären Suppe zu uns herüber. Ihre Augen waren wach und klar und ich vermeinte ein feines Lächeln darin zu erkennen. Hatte sie etwas mit dem Glockengeläut zu tun?
Der Junge am Nebentisch vollführte mit dem JoJo einen Looping, dann fing er es mit seiner Hand auf und schaute ebenfalls zu uns und ich bemerkte, dass es kein Junge, sondern ein Mädchen war. Auch in ihren Augen entdeckte ich eine wache Intelligenz. Dann hörte ich das Glockengeläut. Ein helles Klingen, das im Raum schwebte und von überall zu kommen schien.
„Jetzt hörst du es auch“, konstatierte Armin trocken. Er war ein guter Beobachter.
„Was geht hier vor?“, flüsterte ich. Und noch etwas leiser: „Wer sind die beiden?“
„Sie sind Grenzgänger.“
„Patienten des Sanatoriums?“
„Gäste, wenn du willst. Sie kommen von drüben und gehören eigentlich nicht hierher.“ Die beiden hatten ihre Blicke wieder von uns abgewandt. Die Alte löffelte wieder ihre imaginäre Suppe und das Mädchen ließ das JoJo um ihren rechten Zeigefinger kreisen. Das Glockenklingen verschwand wieder hinter der Geräuschkulisse der Kantine. Ich trank hastig meinen Kaffee aus. Ich wollte raus aus diesem seltsamen Haus. Schauen ob draußen die Welt noch so war, wie ich sie verlassen hatte.
Armin bemerkte meine Unruhe. „Mach dir keine Sorgen, das Tor zu deiner Welt steht offen wie immer.“
„Was hat das alles zu bedeuten? Was tun die Fremden hier und wieso hören wir Glockengeläut?“, flüsterte ich und schaute dabei verstohlen zur Alten hinüber.
Er zuckte die Schulter. „Sie tun nichts, beobachten nur. Doch die Glocken sind ein Alarmzeichen. Etwas verändert sich.“
„Etwas verändert sich? Hier im Sanatorium? Du solltest wieder nach Hause kommen!“
„Es gibt keinen sichereren Platz für mich als hier in diesem Haus.“
„Auch wenn Veränderungen drohen?“
„Das betrifft nicht diesen Ort.“ Er deutete mit dem Zeigefinger auf das Fenster. „Es ist deine Welt, die sich verändern wird.“
Vielleicht sollte ich auch ins Sanatorium umziehen. Euer Traumperlentaucher.