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Schockierende Nachrichten erreichten uns am Ende des Jahres 2012. Gewaltakte gegen Frauen weltweit machen betroffen; sie zeigen die Rückständigkeit mancher Gesellschaften in puncto Akzeptanz von Frauen als Individuen, die eigene Rechte und eigene Würde haben. Eine Rückständigkeit, die in traditionellen patriarchalischen Verhältnissen wurzelt.
Indien: Ermordung einer Studentin kurz vor der Hochzeit
In Indien ist eine junge Frau von sechs Männern etwa eine Stunde in einem Bus vergewaltigt und mit einer Eisenstange in der Scheide und im Darm malträtiert worden, so dass sie trotz intensiver ärztlicher Bemühungen an den Folgen dieses gegen sie verübten Verbrechens verstorben ist. Vergewaltigung und Folter inmitten einer Millionenstadt. Die massenhaften Proteste gegen dieses ungeheuerliche Verbrechen haben die Weltöffentlichkeit informiert, dass es in Indien eine „Kultur der Vergewaltigung“ gibt, dass die indische Gesellschaft bei Gewalt gegen Frauen wegschaut, diese „Normalität“ duldet oder mitträgt, dass Politik und Justiz Frauen nicht hinreichend schützen – und dass Gewalt gegen Frauen, dass Vergewaltigungen dort offenbar lediglich „Bagatellen“ sind, obwohl bereits nach den offiziellen Zahlen alle zwanzig Minuten eine Frau oder ein Kind vergewaltigt wird.
Es bedarf großer gesellschaftlicher und politischer Anstrengungen, diese alltägliche „Kultur der Vergewaltigung“ zurückzudrängen. Die massenhaften Proteste und Demonstrationen der letzten Tage haben gezeigt, dass der Wille dazu in Indien vorhanden ist und dass er durch die Trauer und die Wut gefestigt wird und wächst. Sollten Konsequenzen erkämpft werden, wäre der Tod der 23jährigen Studentin, die bereits ihr Hochzeitskleid für ihre in Kürze geplante Hochzeit gekauft hatte, nicht völlig sinnlos gewesen sein sollte.
Die Täter sind gefasst. Sie werden für ihre ruchlosen Taten mit ihrem Leben büßen müssen, wie aus Indien gemeldet wird. Wie immer die indischen Gerichte entscheiden mögen, Todesstrafe oder Freiheitsstrafe mit oder ohne Kastration, zur Herstellung des inneren Friedens in Indien ist ein schnelles Urteil erforderlich. Generalprävention ist angesichts der bedenklichen Auffassung vom Wert einer Frau in Indien angesagt. Es muss von diesem Urteil das deutliche Signal an die indische Gesellschaft ausgehen, dass das Leben, die Gesundheit und die Würde von Frauen unbedingt zu respektieren ist. Zur Herstellung des Rechtsfriedens aber sind ebenso zügig Maßnahmen zur Aufklärung der Gesellschaft, zur wirksamen Bekämpfung der Prediger von Frauendiskriminierung und der entsprechenden Ideologien, zum verbesserten Schutz von Frauen, zur verbesserten Strafverfolgung von Gewalt gegen Frauen erforderlich.
Massive Frauenverachtung und –diskrimierung in Indien Alltag
Allerdings ist die gesamte Gesellschaft und auch die politische Klasse gefordert. Solange es jedoch Politiker gibt, die die Demonstrantinnen als “angeknackste, aufgetakelte Frauen”. bezeichnen, die die Demonstrationen als “pinkfarbene Revolution” von stark geschminkten Frauen verunglimpfen, sind erhebliche Zweifel angebracht, ob die politische Klasse ohne weiteren massiven Druck aus der Gesellschaft zu wirksamen Maßnahmen zum Schutz von Frauen bereit ist. Die (auch gewalttätigen) Protestaktionen der letzten beiden Wochen, die machtvollen Demonstrationen gegen sexuelle Gewalt, die landesweiten Schweigemärsche, die Mahnwachen mit Kerzenlichtern, mit Gebeten und Gesängen. sind von manchen indischen Kommentatoren bereits mit der 68er Revolte in Europa verglichen worden. Gefordert werden unüberhörbar Veränderungen der indischen Gesellschaft, zumal auch häusliche Gewalt ausgeprägt und weit verbreitet sei.
Die anhaltende Empörung und der öffentliche Protest nähren die Hoffnung, dass es zu einem kulturellen Umbruch in Indien kommen kann. Ein von Al Jazeera gemeldeter Schweigemarsch von Studenten der Nehru-Universität in Neu Delhi zu jener Bushaltestelle, an der die junge Frau mit ihrem Freund am 16. Dezember die Todesfahrt angetreten hatte, zeigte Plakate mit der Aufschrift:“ Sie ist nicht mehr bei uns, aber ihre Geschichte muss uns aufwecken.“ In der gegenwärtigen Situation Indiens wirkt diese Aussage wie ein Omen.
Türkei: Ermordung eines Mädchens der „Familienehre“ wegen
Von einem entsetzlichen Verbrechen wird auch aus der Osttürkei berichtet. Hatice, ein 15jähriges Mädchen, vor zwei Jahren zwangsverheiratet, war nach Gewalttätigkeiten seitens des Ehemannes zurück zu ihrer Familie geflohen. Dort wurde sie in der Folgezeit von zwei Cousins vergewaltigt. Als dann in der Familie bekannt wurde, dass sie schwanger geworden war, beschloss der Familienrat, sie zu töten.
Das Mädchen wurde im vierten Schwangerschaftsmonat - vor etwa zwei Wochen – ermordet.
Ehre genug für Mädchen (?) - Beerdigung im Plastiksack
Die türkischen Medien berichteten in der letzten Woche über diese brutale Tat. Sie meldeten auch, dass die 15jährige entgegen der religiösen Tradition nicht in einem Leichentuch sondern in einem Plastiksack (!) in ein Grab gelegt worden war. Nach Bekanntwerden dieser Informationen protestierten am letzten Wochenende hunderte von Frauen auf dem Friedhof von Diyarbakir, bedeckten das Grab mit einem Leinentuch und stellten Kerzen darauf. Von Hatices Familie erschien zu dieser würdevollen Abschiednahme von dem jungen Mädchen niemand. Nicht einer von dieser Bagage hat bislang wenigstens Reue gezeigt.
Eine Mitarbeiterin der Frauenhilfsorganisation Kadem, Frau Tülay Deniz, erklärte “Ihre Mörder werden nach den hier üblichen Traditionen einmal in weißen Leinentüchern beerdigt werden. Für Hatice genügte nach den Wertvorstellungen dieser patriarchalischen Feudalgesellschaft ein Plastiksack, weil sie nur eine Frau war.”
Bislang hat die Polizei sieben Tatverdächtige festgenommen, darunter nach Angaben der Presseagentur Anadolu, auch den Großvater und zwei Onkel von Hatice. Die Polizei geht davon aus, dass der Großvater den Mord initiiert hat.
Die deutsch-türkischen Nachrichten haben jetzt ein erschütterndes Video-Dokument von dem Marsch der Frauen in Diyarbakir zu Hatices Grab, von der dortigen Trauerfeier und der Bedeckung des Grabes mit einem Leinentuch veröffentlicht.
Das Schicksal (auch) von Hatice zeigt, dass die bisherigen Anstrengungen in der Türkei (darunter Strafrechtsverschärfungen, Verlängerung der Schulpflicht usw.) gegen Zwangsverheiratungen und „Ehrenmorde“, die in bestimmten Communities nach wie vor gang und gäbe sind, nicht ausreichend sind, um Mädchen und Frauen zu schützen. Hatices Schicksal ist kein Einzelfall. Und nach wie vor ist in der Türkei die hauptsächliche Todesursache für Frauen zwischen 15 und 44 Jahren geschlechtsbezogene Gewalt. Auf dem 30. Kongress über die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung von Frauen in der Türkei wurden im November letzten Jahres dramatische Daten veröffentlicht, es zeigte sich, dass die Gesetzesänderungen der letzten Jahre der dringenden Umsetzung in gesellschaftliche, politische und auch polizeiliche Praxis bedürfen.
Der Wille dazu scheint vorhanden sein, immerhin hat die türkische Regierung verlautbart, die Diskriminierung von Frauen in der Türkei, die häusliche Gewalt gegen Frauen sei schlimmer als der Rassismus in der Türkei. Gegenwärtig steht aber zu befürchten, dass den aktuellen Auseinandersetzungen um die Verfassungsreform auch die bezüglich Rechten von Mädchen und Frauen bereits erarbeiteten gemeinsamen Positionen der Parlamentsfraktionen zum Opfer fallen werden.
Das gegenwärtige Entsetzen in der türkischen Gesellschaft ist groß. Weitere Aufklärung über die Schicksale junger Mädchen und Frauen, die zwangsverheiratet werden, und über die diesen Vorgängen zugrunde liegenden gesellschaftlichen Strukturen, und ebenso hinsichtlich der „Ehrenmorde“, ist weiterhin dringend erforderlich. Die seit einigen Monaten regelmäßig ausgestrahlte TV-Serie „Das Leben geht weiter“, von Mahsun Kırmızıgül stammend, die sich in SOAP-Form mit diesen Themen beschäftigt, sensibilisiert die türkische Gesellschaft in erheblichem Maße für dieses Thema. Diese Serie zeigt die (weithin verschwiegene) Realität in einigen türkischen Communities, sie rüttelt die türkische Öffentlichkeit auf und enttabuisiert das Thema „Kinderbräute“; ein wichtiger Anfang ist gemacht.
In der Türkei war in den letzten Jahren von einer geplanten Fatwa des islamischen Religionsamtes gegen Kinderheiraten und Zwangsheiraten berichtet worden; Ergebnisse hierzu sind allerdings ebenso wenig bekannt wie bezüglich der Ende 2011 angekündigten Aktion des Religionsamtes, in Moscheen und Kommunen eine Aufklärungskampagne gegen Gewalt gegen Frauen und gegen Ehrenmorde zu initiieren. Im Rahmen der Kampagne sollen Gläubige bei den Freitagsgebeten über die „wahre Stellung der Frau im Islam“ informiert und darauf hingewiesen werden, „dass Geringschätzung und Misshandlung von Frauen auf einem Irrglauben“ beruhe. Derartige Maßnahmen wären von großer Bedeutung in einem Land, in dem die Geistlichen großen Einfluss auf die Vorstellungen und Wertorientierungen insbesonders bäuerlicher Bevölkerungskreise haben.
Festzuhalten ist bezüglich der türkischen Bemühungen auch: Die Türkei hat als erster der Staaten des Europarats die am 11.05.2011 in Istanbul unterzeichnete Konvention des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ratifiziert. Bislang haben seit Mai 2011 lediglich 24 dem Europarat angehörende Staaten (darunter Deutschland) die Konvention unterzeichnet, jedoch nicht ratifiziert. Aufgrund dieser Konvention verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten zur Festschreibung der Gleichstellung der Geschlechter in ihren Verfassungen und zur Abschaffung sämtlicher diskriminierender Vorschriften in ihren Rechtsordnungen, zu Hilfsangeboten für Frauen, zur Einrichtung von Frauenhäusern wie auch zur offensiven Bekämpfung von Zwangsehen. Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat die Konvention begrüßt, die auf europäischer Ebene zum ersten Mal die Staaten zu umfassenden und koordinieren Maßnahmen in diesen Angelegenheiten verpflichtet, und darauf hingewiesen, dass Deutschland mit der Unterzeichnung noch lange nicht seine notwendigen Aufgaben erledigt habe.
Aber bis heute liegt keine Ratifizierung durch Deutschland vor. Und die Türkei ist da einsamer im europäischen Maßstab Spitzenreiter.
Und das sollten einmal alle jene zur Kenntnis nehmen, die „Ehrenmorde“ und Zwangsverheiratungen „dem Islam“ anlasten, und muslimischen Gesellschaften jegliche relevanten Veränderungschancen absprechen, solange nicht „der Islam“ im Sinne eurozentristischer Vorstellungen reformiert sei.
Und in Deutschland?
Mehr Engagement auch in Deutschland ist angesagt, was „Kinderbräute“, Zwangsverheiratungen und „Ehrenmorde“ angeht. Der Schutz von Mädchen und Frauen ist in jeder Hinsicht zu verstärken; auch der 2008 vorgenommene Wegfall der §§ 67 und 67 a PStG rückgängig zu machen. Jetzt sind religiöse Ehen unabhängig vom Eingehen der Zivilehe erlaubt, was die nach islamischen Vorschriften erlaubte Vielehe mit vielfältigen Nachteilen für die „Ehefrauen“ zulässt. Das muss wieder geändert werden.
Was sich aber auch an den beiden Beispielen aus Indien und der Türkei zeigt: es muss gegen patriarchalische Strukturen unbedingt vorgegangen werden. Ein „Artenschutz“ des Weitergewährens überkommener Strukturen und Verhältnisse, von manchen unter dem Gesichtspunkt eines „Rechts auf Differenz“ für zugewanderte Communities befürwortet, darf nicht gewährt werden: es zeigt sich deutlich, wer dabei die Leittragende ist.
Von großer Bedeutung ist aber auch, einer Hasskultur, die das Anderssein ablehnt und bekämpft, die Andersseiende, ob nun Frauen, Ausländer, Homosexuelle, wegen ihres Andersseins angreift, mobbt und stalkt und in ihrem Alltagsleben traumatisiert , eine klare Abfuhr mit allen rechtlich zur Verfügung stehenden Mitteln erteilt wird. Und dabei gibt die aktuelle Amsterdamer Regelung durchaus Orientierung.
Walter Otte