Vorurteile können schädlich und gefährlich sein. Wir können aber nicht ohne sie leben. Es wäre völlig unmöglich jede einzelne Situation, Begegnung und Entscheidung jeder Sekunde des Tages immer völlig neu, neutral und objektiv zu bewerten. Wir müssen, wollen wir uns nicht überlasten – man könnte auch sagen: wollen wir überleben – auf frühere Erfahrungen, Eindrücke und Urteile zurückzugreifen. Wenn wir beispielsweise einkaufen, verlassen wir uns – zumindest die Meisten – auf das Vorurteil, das billig ist, was billig aussieht. Wer versuchen würde, jedem Produkt das er in den Einkaufswagen legt, eine gründliche Recherche voran zu setzen, müsste den Einkauf zur Lebensaufgabe machen. An Vorurteilen ist nichts Schlechtes, so lange wir uns im klaren sind, dass sie Vorurteile sind, und kein allgemein gültiges Naturgesetz.
Viele Vorurteile basieren auf einem Kern Tatsache. Stereotypen entstehen selten ohne Auslöser. Gefährlich wird es, wenn wir Eigenschaften, die in einer Gesellschaftsgruppe etwas gehäuft vorkommen, pauschalisieren und über die ganze Gruppe hinweg bürsten wollen. Es sind nie alle gleich! Das möchte ich vorausschicken, bevor ich über ein Vorurteil schreibe, das Männern und Frauen gegenüber habe.
Komme ich mit einer Frau über Fotografie ins Gespräche, was bei den Themen die ich unterrichte häufig der Fall sit, interessiert mich auch, womit sie fotografiert. Nicht, weil es wichtig wäre, ob jemand mit Nikon oder Canon fotografiert, sondern weil es für die Themen meiner Kurse einen Unterschied machen kann, ob jemand mit einer System- oder Kompaktkamera oder einem Handy fotografiert. Oft höre ich dann Sätze, wie, »mit einer Spiegelreflex … glaube ich … mit so einer Canon … oder Nikon? Ich weiß nicht – ich muss meinen Freund fragen«. Megapixel oder Sensorgröße? Fehlanzeige. Keine Ahnung.
Fragst du einen Mann nach seiner Kamera, kann er dir in der Regel das gesamte Datenblatt herunterbeten. Interessanterweise hat sich bei mir der Eindruck verfestigt, dass Frauen oft besser fotografieren – ein besseres Auge für Motive zu haben scheinen – als Männer. Das scheint mir irgendwie auch logisch schlüssig zu sein. Das Interesse von uns Männern dreht sich oft viel zu sehr um Theorie, Technik und Daten. Wir sind so auf technische Details fixiert, dass wir das aus dem Auge verlieren, was zählt: Das Motiv. Das sage nicht nur ich. Das sagte heute auch mein Fotohändler zu mir, weshalb ich auch auf die Idee zu diesem Artikel gekommen bin.
Ich habe noch nicht viele Frauen getroffen (ich glaube noch keine), die sich mit der Euphorie (eigentlich würde ich lieber schreiben »Verbohrtheit«) für Technik begeistern können, wie viele männliche Fotografen das tun. Viele interessieren sich eben so wenig für Technik, dass sie weder wissen, was für eine Art Kamera sie haben, wie der Hersteller heißt, geschweige denn, dass sie spontan irgendwelche technischen Kenndaten nennen könnten. Oft haben sie auch wenig Ahnung von all den Knöpfen, Schaltern und Funktionen des Geräts. Dennoch gelingen ihnen häufiger bemerkenswerte Aufnahmen. Sie machen sich eben viel mehr Gedanken darüber, was sie wie fotografieren, anstatt womit.
Joe Edelmann spricht im Video unten unter anderem darüber, wie viel Energie die Foto-Communitys da hinein verschleißen, sich gegenseitig ihre Marken schlecht zu reden und jedes technische und theoretische Detail viermal zu spalten. Und er sagt auch, dass der überwältigende Teil der User die in Foren und Kommentaren diese Themen bis zur Beflegelung diskutieren männlich sind. Ich glaube nicht, dass man dem widersprechen könnte.
Natürlich ist das eine Pauschalisierung die nicht verallgemeinert werden darf. Je professioneller eine Person mit Fotografie arbeitet, desto eher wird sie den fotografischen Blick mit technischer Kompetenz verbinden. Natürlich wissen viele Frauen, was für ein System von welchem Hersteller sie nutzen und manche sind besser mit sämtlichen Funktionen vertraut, als die meisten männlichen Fotografen. Natürlich kennen wir männliche Fotografen oder sehen wir Bilder von ihnen, die keinen Zweifel aufkommen lassen, dass sie ein Auge für besondere Motive haben und sie in Szene zu setzen verstehen. Aber im Durchschnitt tendieren Frauen eher dazu sich mehr dem Motiv und der Gestaltung zu widmen, während sich Männer gerne in Themen verlieren, die nicht im Geringsten dabei helfen bessere Fotos zu machen.
Die Technik hat sich in der digitalen Fotografie in den letzten Jahren soweit entwickelt, dass man heute mit jeder am Markt befindlichen Systemkamera auf professionellem Niveau arbeiten kann. Es gibt Profis die mit Smartphones und Kompaktkameras exzellente Ergebnisse erzielen, die dem Gros der Anwender auch mit der teuersten Ausrüstung im Leben nie gelingen werden.
Wir sollten aufhören uns wegen persönlicher Vorlieben und Befindlichkeiten in den Foren zu zerfleischen. Wir werden zu keinen besseren Fotografen, indem wir uns gegenseitig die Ausrüstung schlecht reden. Wir Männer, die sich zu oft zu sehr in den technischen Spielereien verlieren, sollten uns ein Beispiel an den Frauen nehmen, für die das Bild wichtiger ist als die Kamera.
Solche Beispiele sind natürlich nicht nur Frauen. Ich folge auf YouTube einigen Kanälen männlicher Fotografen die viel über Fotografie zu erzählen haben. Ich finde es viel spannender und interessanter ihnen zuzuhören, als Leuten die mehr Tester und Theoretiker sind als Fotografen. Wir sollten vor allem Kanäle abdrehen, die ihre Reichweiten gerne mit reißerischen Titeln erzielen, ständig auf Drama-Queen machen, Dieses und Jenes für tot erklären und die WAHRHEIT darüber verkünden, wer in der Industrie alles lügt und betrügt. Die helfen kaum besser zu fotografieren, sie schaden nur der Fotografie. Man kann Fotografie nicht theoretisch erlernen, sondern nur in der Praxis. Dazu inspirieren mich aber vor allem Leute, die praktisch vom Fotografieren erzählen.
Ich kann nicht abstreiten ein Mann zu sein. Ich kann nicht abstreiten, mich für Technik zu begeistern. Ich kann nicht abstreiten, so etwas wie ein Olympus-Fan zu sein. Ich kann das auch sein, ohne, dass irgendjemandem vermitteln zu müssen, dass mein System dem seinen überlegen ist. Das ist Unsinn. Und gerade weil es so ein Unsinn ist, ärgere ich mich oft darüber, dass ich mich über die ärgere, die das tun. Und dann beneide ich die Frauen, die das alles nicht im mindestens berührt, noch nicht einmal mitbekommen, weil sie sich nicht in den Foren und auf den Seiten herumtreiben, auf denen all der Unsinn breit getreten wird. Die nicht da sind, weil sie das tun, worum es in Fotografie wirklich geht: Um das Fotografieren.