Fragmente einer apokalyptischen Epoche

Wir wissen nicht viel über die Zeit vor dem großen Weltenbrand, der das Ende der alten Zeitrechnung und unseren Beginn, den Anfang der Neuzeit darstellt. Noch weniger wissen wir über die Kreativität, die Kunst oder Literatur jener begrabenen Tage. Die archäologische Arbeit gestaltet sich schwierig - was wir jedoch als historische Wahrheit betrachten können ist, dass vor dem Weltenbrand ein exorbitanter, global verabschiedeter Bücherbrand wütete. Damit wird uns erklärbar, weshalb nurmehr wenige Bücher aus der damaligen Zeit in Erdschichten verschüttet liegen.

Einige Fragmente eines Buches wurden vor geraumer Zeit freigelegt. Es handelt sich um ein Buch, das den Namen Unzugehörig trägt. Der Autor war ein gewisser Roberto J. De Lapuente. Viel wissen wir von ihm nicht - war er arm oder reich, jung oder alt, berühmter Schreiber oder doch eher randständig und unbekannt, war dies richtiger oder sein Künstlername? Die Fragmente, die erstaunlich gut erhalten sind, helfen uns aber, diese alte Welt, die die Welt des Autors war, besser zu verstehen. Als Zeitzeuge jener letzten Jahrzehnte vor dem damaligen Weltende, erlaubt er der historischen Wissenschaft Einblicke in die Befindlichkeit eines Menschengeschlechts, das uns in vielen Punkten, in vielen Denk- und Verhaltensweisen, unverständlich und fremd erscheint.

Aus Unzugehörig entschlüsseln wir, dass sich da eine Gesellschaft herausentwickelte, die den Weltenbrand nicht zufällig erleiden mußte - sie hat ihn jahrzehntelang, vielleicht sogar jahrhundertelang, heraufbeschworen. De Lapuente schreibt von einer Gesellschaft, in der Menschen wie Ware, wie Gegenstände behandelt wurden. Menschen mußten Nutzen haben, durften nicht unnütz essen, durften nur etwas kosten, wenn sie diese Kosten selbst tragen konnten. Für uns heutige Menschen ist das schwer vorstellbar, wenn er in einer Erzählung skizzenhaft einen Sachbearbeiter einer Behörde, auf wesentliche Funktionen reduziert, die ausreichten, um Dienst tun zu können:
"Man sitzt dem Verschwender [Anm.: damit meint er den Sachbearbeiter] gegenüber [...], malt sich aus, wie eine zweckdienlichere Variante Dienst im Kämmerchen tun könnte. Würden es nicht auch weniger körperliche Extremitäten tun? Man malt sich aus, wie ein bloßer Rumpf auf dem pompösen Thron sitzt, aus dessen rechter Seite ein dürres Ärmchen erwächst, worauf wiederum ein mageres Händchen sprießt, aus dessen Ende zwei dreigliedrige und zwei zweigliedrige Fingerstummel hervorkriechen."
- Unzugehörig, Erhobenen Hauptes, Seite 66 f -
Die Forschung ist sich darüber einig, dass De Lapuente diesen Ausruf polemisch meinte. Er war, nach derzeitigem Stand, kein Jünger der Rationalisierung, die wir anhand einiger anderer Texte jener Zeit, schon als Grundmaxime dieser gestrigen Gegenwart entlarvt haben. Dennoch greift der Autor einer Entwicklung voraus, die sich Jahrzehnte später manifestieren sollte. Wir fanden solcherlei Humanapparaturen, die genetisch programmiert und erzeugt wurden, um billige und effektive Arbeitskraft zu bewerkstelligen - einige solcher grausigen Funde liegen der Archäologie vor. Wir nehmen an, dass die Menschen zunächst das Tier (welches ihm laut eines ziemlich erfolgreichen Bestsellers jener Vorzeiten, der sich Bibel nannte, Untertan sein sollte) zum effektiven Gebrauchsgegenstand umfunktionierte. Es wird von Geflügel berichtet, dass aufgrund genmanipulierter fleischiger Brüste nicht mehr gehen oder auch nur stehen konnte, von Schweinen die im Akkord gemästet und am Fließband getötet wurden - dieses Prinzip des effizienten Biomechanismus fand später für einzelne Menschengruppen Anwendung.
War nun De Lapuente Visionär oder eher Vordenker des Effizienzbiologismus? Hat er Phantasien gespeist, Genetiker zum Träumen gebracht? Das können wir nicht beantworten, wir wissen einfach zu wenig über des Autors Einfluss. Sollte er gesellschaftlich Gehör gefunden haben, könnte er tatsächlich unabsichtlich und ungewollt seiner polemischen Laune erlegen, zum Urvater dieses grausamen Gedankens geworden sein.

Es gehört zu den unerklärbaren Tatsachen unserer Forschung, dass wir etwas über ein römisches Reich wissen, auch etwas über ein sogenanntes Mittelalter - auch wenn wir nicht wissen, von was es die Mitte war! -; Epochen, die lange vor dem Weltenbrand existiert haben müssen. Die unmittelbare Zeit davor aber, die erschließt sich uns nur mühsam. Das liegt einerseits am Verbrennen möglicher gedruckter Hinterlassenschaften, aber auch an der mit Euphemismen verbrämten Ausdrucksweise jener Zeit. Uns wird ziemlich deutlich, dass dieses römische Reich ebenso wie das Mittelalter, sehr blutige Zeitalter waren. Es gab Todeskämpfe in großen Stadien oder Menschenverbrennungen und Folter - De Lapuente berichtet in seinen Fragmenten von seiner Epoche, die sich human, friedfertig und vernünftig gibt, die aber hinter der Fassade dieselben Merkmale aufweist, wie die ihr vorangegangenen Vorzeiten. Es scheint ihm ein zentrales Anliegen gewesen zu sein, dieses zweite Gesicht seiner Zeit abzubilden - dabei bedient er sich selten einer nüchternen Sprache, die er wahrscheinlich abgelehnt hat, weil sie als Sprache seiner Zeit auch dem Effizienzgedanken unterworfen schien. In seinem Text Hättest Du nur Teitelbaum ermordet... beschreibt er den Mord an einen offensichtlich berühmten Mann namens Buback. Vielleicht ein heiliger Mann: wenn man liest, welche Verehrung ihm anscheinend seitens der Gesellschaft zuteil wurde - aber das ist nur eine Vermutung. Wir wissen auch nicht, wer Teitelbaum war - aber dem zeitgenössischen Leser wird klar, dass sich De Lapuente darüber ereifert hat, dass Mord nicht gleich Mord war. Dieses zweite Gesicht, diese Doppelmoral trieb ihn wahrscheinlich an.

Leider wissen wir nicht viel von jener Zeit, die langsam aber sicher dem Abgrund immer näher kam. Wir wissen, dass eines Tages Bücher dem Feuer übergeben wurden, weil sie die Nutzbarkeit und Wirtschaftlichkeit der Humanressource (vermutlich ein damals zeitgemäßes Wort für Mensch) behinderten. Erst brannten Bücher, dann Menschen, dann die ganze Welt - so in etwa muß es sich abgespielt haben. Zufall scheint es nicht gewesen zu sein: das können wir aus unserem spärlichen Wissen dennoch ableiten. Wir wissen zwar nicht, warum die Welt brannte - aber wir können behaupten, dass sie folgerichtig und konsequent brannte: lange genug scheint auf eine Welt hingearbeitet worden zu sein, die dem Menschen nicht gerecht war, die zum Ausbruch aus dieser fremden Umwelt ermunterte, die den Brand willentlich in Kauf nahm.

Um die Befindlichkeiten des homo apocalypticus besser zu verstehen, sollten De Lapuentes Fragmente, die nun zu einem Buch zusammengefasst wurden, gelesen werden. Sollte der Autor in seiner Welt eine unbekannte Größe gewesen sein: hier und heute erlangt er posthumen Ruhm. Seine Aufzeichnungen werden die historische und soziologische Wissenschaft noch beschäftigen - aber sie werden auch einem breiten Publikum Einblick in einige traurige, dem Tode überschriebene Welt gewähren. Unzugehörig ist ab sofort erhältlich.


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